Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer
»Ich machen neues Kanu für Zurückfahren. Ihr nehmen dies. Geschenk von mir, Squaw und Zündi.«
Fredericks und Orlando bedankten sich bei ihrem Wohltäter. Sie tauschten die Plätze, und Orlando griff sich das Paddel. Vor lauter Gefühlsaufwallung waren die Brillengläser der Landschildkröte beschlagen, und sie rieb mit den Daumen darüber, um hindurchsehen zu können. Letzten Endes, fand Orlando, mußte man sie alle als Menschen behandeln, ob sie es waren oder nicht.
»Lebt wohl«, sagte er. »Hat mich echt gefreut, euch kennenzulernen.«
»Macht’s gut, Jungs.« Die Landschildkröte schniefte ein wenig. »Wenn ihr mal in die Bredouille kommt, denkt an Balduin Bimsstein und kämpft für das Gute.«
»Kämpft für euer Volk, euern Stamm«, führte Starke Marke den Gedanken weiter aus. Er hielt Zündi hoch; das Baby blickte ernst wie immer. »Seid tapfer«, fügte der Häuptling hinzu.
Orlando lenkte das Boot in die Strömung hinaus, und sie begannen flußabwärts zu treiben. »Habt vielen Dank!« schrie er.
Die Landschildkröte hatte ihr Taschentuch gefunden und versuchte damit zu winken und sich gleichzeitig die Brillengläser zu putzen. »Ich werde zu den Käufern für eure Sicherheit beten«, rief sie, bevor sie vom nächsten Schluchzanfall übermannt wurde. Der Häuptling, auf dessen breitem rotem Gesicht keinerlei Regung zu erkennen war, stand da und sah ihnen nach, bis eine Biegung im Fluß und eine Gruppe Flaschenbürsten ihn ihren Blicken entzog.
Fredericks begnügte sich damit, den borstigen Wald vorbeitreiben zu sehen. Orlando paddelte gemächlich vor sich hin und überließ die Arbeit weitgehend dem Fluß. Er bemühte sich, die vielen verschiedenen Dinge in seinem Kopf zu sortieren, und das war nicht einfach. Merkwürdigerweise kam er immer wieder auf die Worte des Häuptlings zurück.
»Kämpft für euer Volk, euern Stamm.« Das war schön und gut, wenn man ein Cartoonindianer war, aber was zum Teufel war Orlandos Stamm? Die Amerikaner? Kinder mit abartigen Krankheiten? Seine Familie, Conrad und Vivien, die ihm jetzt auf so unbegreifliche Art unerreichbar waren? Oder seine wenigen Freunde, von denen einer mit ihm in dieser Scänfabrik festhing? Er hatte keine Ahnung, was die Worte des Indianers bedeuteten, wenn überhaupt etwas, aber irgendwie paßte die Ermahnung zu dem Gefühl eines neuen Lebens, das er in der Nacht davor gehabt hatte, obwohl er noch nicht verstehen konnte, wieso.
Er schüttelte ratlos den Kopf und paddelte ein wenig energischer.
Sie stießen am Ende des Waldes darauf – eine Wand, die himmelhoch vor ihnen aufragte, ein gewaltiges, senkrechtes Feld mit leicht verblaßten Blumen. Die Tapete löste sich an mehreren Stellen, und in der Mitte hing in Wolkenkratzerhöhe über ihren Köpfen ein gerahmtes Bild, das Leute mit Strohhüten bei einer Bootspartie auf einem Fluß zeigte; im Dämmerlicht waren die Farben ganz trübe. Der Fluß selbst verschmälerte sich zu einem dünnen Wasserlauf auf dem Linoleum und verschwand in einem Loch in der Fußleiste.
»Was meinst du, was auf der andern Seite ist?« fragte Fredericks laut. Das Loch in der Fußleiste kam immer näher und gähnte jetzt schon wie ein Autobahntunnel. Die Wand ihrerseits hatte angefangen zu flimmern, als ob von der Oberfläche des Küchenflusses ein Hitzeschleier aufstieg.
»Keine Ahnung!« Orlando stellte fest, daß auch er schrie. Das Kanu schoß jetzt schneller dahin, die Geräusche des Wassers wurden mit jedem Moment donnernder und hatten bald eine ohrenbetäubende Lautstärke erreicht. »Aber gleich werden wir’s wissen!«
Die Strömung erfaßte sie und riß sie mit in die Öffnung. Die jähe Finsternis sprühte gasringblaue Funken.
»Wir sind zu schnell!« rief Fredericks. Orlando, der das Paddel weggelegt hatte und sich in Todesangst an den Seiten des Kanus festklammerte, mußte das nicht erst gesagt bekommen. Die blauen Lichtstöße sausten wie Leuchtspurgeschosse in einem Luftkriegspiel an ihnen vorbei. Alles andere Licht wurde von einer Schwärze verschluckt, in der nur die zornigen Funken blitzten, ohne sie zu erhellen. Dann kippte der Bug des Kanus nach unten, und blaues Feuer strömte in einem kontinuierlichen, brodelnden Schwall an ihnen vorbei, während sie fielen. Orlando rang nach Luft.
Das Aufklatschen war nicht annähernd so heftig, wie er befürchtet hatte. Im letzten Moment schien etwas ihren Fall zu bremsen und zu bewirken, daß sie unversehrt auf den wieder waagerechten Fluß
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