Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer
tiefen Strömung dahintrieben. Die Ruinen schienen sich verschoben zu haben, näher herangerückt zu sein, so daß er jetzt auf allen Seiten von Steintrümmern überragt war. »Mach«, sagte er schließlich. Der Name des Wesens wollte ihm nicht einfallen. »Mach … Käfer. Alles.« Er sinnierte noch ein Weilchen, bemühte sich, Worte für die immer noch herumwirbelnden, immer noch zusammenhanglosen Gedanken zu finden. »Komm. Komm mich finden.« Er wollte ihm sagen, wo er war, doch er kam nicht darauf. Ein Ort? »Ägypten«, sagte er schließlich, obwohl er merkte, daß sich das nicht richtig anhörte. »Ich bin …« Eine Sekunde lang war es beinahe da, ein Wort, ein Gedanke … ein anderes Land? Es entglitt ihm und war weg. »Ägypten«, wiederholte er. »Online.«
»Ich werd mein Bestes tun«, erwiderte die silbrige Gestalt. Das Leuchten verblaßte. »Ich seh zu, daß ich dich finde…«
Die Stimme verklang. Das Sternenlicht wurde trübe. Orlando merkte, wie sein Name ihm wiederkam, deutlich jetzt, aber irgendwie unwichtig. Einen Augenblick später wurde ihm klar, daß er geträumt hatte, und während die letzten dünnen Schleier des Traums von ihm abfielen, versuchte er zu behalten, was er geträumt hatte.
Beezle …, erinnerte er sich vage. In den Ruinen. Er sucht mich, hat er gesagt – war es nicht so?
Es war bereits schwer, sich die Einzelheiten zurückzurufen. Er schlug die Augen auf und sah, daß die zerborstenen Steine, inmitten derer sie ihr Lager aufgeschlagen hatten, ihn immer noch umringten, aber statt des silbernen Sternenscheins seiner Träume waren sie von einem zarten rosigen Glühen angehaucht, dem ersten Licht der Morgenröte. Ein Rascheln ganz in der Nähe erinnerte ihn daran, daß der Wolfgott Upuaut am Anfang der Nacht schrecklich unruhig gewesen war; sein Gemurmel hatte Orlando lange Zeit am Einschlafen gehindert…
Ein Schatten baute sich jählings vor ihm auf, dunkel vor dem dunklen Himmel. Gelbe Augen brannten wie Lampen. Etwas Kühles und Scharfes berührte Orlandos Kehle – Thargors Schwert.
»Der Allerhöchste sprach zu ihm.« Upuauts Stimme, die beim Aufschlagen des Lagers so milde und vernünftig gewesen war, hatte den triumphierenden Ton seiner Hymne an sich selbst wiedergewonnen. »Sprach durch dich, da du schliefst, weil er wußte, daß Upuaut lauschte. Er sprach zu ihm … zu … zu mir.« Der Wolfgott sprach das persönliche Fürwort mit bebender Freude aus. »Zu mir! Upuaut! Und Re sprach in seiner Skarabäusgestalt als Chepri, Käfer der Morgensonne! ›Mach alles‹, sagte er. ›Komm mich finden‹, waren seine Worte an den treuen Upuaut. ›Ich bin Ägypten‹, sprach er zu mir, mir, mir!«
Der Wolfgott führte einen seltsamen Tanz auf, bei dem er seine langen Beine in die Luft warf wie eine Heuschrecke auf der Herdplatte, aber die Schwertspitze weiter nahe an Orlandos Gesicht hielt.
»Die Zeit meiner Verbannung ist zu Ende«, jubelte Upuaut. »Und jetzt werde ich mich zu Res Tempel begeben, und er wird mir mein Erstgeburtsrecht zurückerstatten! Meine Feinde werden fallen, sie werden ihr Gesicht in den Staub reiben und laut wehklagen. Ich werde wieder Chontamenti sein, der Erste der Westlichen!«
Die Klinge tanzte unangenehm dicht vor Orlandos Gesicht; er schob sich ein paar Zentimeter zurück. Neben ihm war Fredericks eben erst aufgewacht und lag mit erschrocken aufgerissenen Augen da. »Was wird aus uns?« fragte Orlando.
»Ah, ja.« Upuaut nickte würdevoll. »Du hast als Mund des Re gedient. Ich werde nicht so schmählich handeln, daß ich seinem Boten etwas zuleide tue. Ihr dürft beide leben.«
Erleichterung wandelte sich in Empörung. »Was ist mit deinem Versprechen?« gab Orlando zu bedenken. »Du hast bei deiner Göttlichkeit geschworen.«
»Ich versprach, euch nichts zu tun. Ich habe euch nichts getan. Ich versprach, euch zu führen. Das habe ich getan, wenn auch nur kurze Zeit.« Upuaut machte auf dem Absatz kehrt und stolzierte zum Strand hinunter, wo er im Frühlicht schlank wie ein Lotusstengel gegen den dunklen Fluß abstach. Orlando und Fredericks mußten hilflos mit ansehen, wie der Wolfgott ihr Boot in das flache Wasser schob und einstieg. Als er es in die Strömung hinausgestakt hatte, wandte er sich noch einmal zum Ufer um. »So ihr vor mich kommt, wenn ich wieder der Herr des Westens bin«, rief er ihnen zu, »werde ich gnädig sein. Ich werde eure Seelen mit Ehre bekleiden.«
Das Boot trieb davon. Der Wolfgott warf den Kopf in den
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