Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer
»Nur noch wenige Schritte. Ah, da wären wir.«
Sie humpelten auf eine kleine Lichtung, die mit abgefallenen dürren Zweigen und einer herbstlichen Laubschicht bedeckt war. Lichtpfeile schossen durch das Astwerk und die herabhängenden Kletterpflanzen wie durch das Fenster eines Doms. Die Geräusche der Verfolger waren furchtbar nahe.
»Aber hier ist nichts.« Renie sah ihren Freund verzweifelt an und fragte sich, ob die Strapazen ihn zuletzt um den Verstand gebracht hatten. »Gar nichts!«
»Da hast du recht«, sagte er und hob seine kleine Hand. Hinter ihnen kam schon der erste der Pflanzenbären angeschwankt und schlug sich mit roher Gewalt zwischen den Bäumen den Weg frei. »Hier ist genau das Nichts, das wir suchen … du mußt nur richtig hinschauen.«
Eine goldene, wie geschmolzen aussehende Lichtsäule flackerte vor ihnen auf, eine kompakte Helix mit endlosen Windungen. Einen Augenblick später wurde sie flach und nahm die Form eines Rechtecks an. Renie konnte innerhalb der vier geraden Seiten nichts erkennen als verfließende Farben, die an einen Regenbogen in einer radioaktiven Seifenblase denken ließen. !Xabbu nahm erst Emily und dann Renie fest an der Hand und führte sie darauf zu.
»Wie hast du …?« begann sie. Allmählich überraschte sie gar nichts mehr.
»Ich erzähle es dir später. Jetzt müssen wir uns beeilen.«
Zwei weitere Pflanzenbären waren hinter dem ersten erschienen, und unmittelbar hinter diesen tauchte undeutlicher, aber nicht weniger drohend die Gestalt ihres Herrn auf. Der Löwe schrie den Flüchtlingen etwas zu, aber sein verzerrtes, tierisches Brüllen machte seine Worte unverständlich. »Wir kriegen Emily nicht aus ihrer Simulation raus«, keuchte Renie gehetzt. Ihnen blieben nur noch Sekunden. »Aber wenn wir sie hierlassen, schnappen sie sie. Töten sie, reißen ihr Baby an sich.«
!Xabbu schüttelte den Kopf und hörte nicht auf, sie beide weiterzuziehen. Renie suchte Emilys Blick, wollte ihr sagen, wie leid es ihr tue, aber das mit hängendem Kopf willenlos dahinstolpernde Mädchen war grau vor Erschöpfung. Hoffentlich, dachte Renie, ist es rasch und schmerzlos, was ein System mit einem Replikanten macht, der die Simwelt verlassen will. Vielleicht versetzte es Emily ja in einen anderen Teil von Kansas.
Doch schon umgab sie das Leuchten des Gateways, ein flammender plasmatischer Sonnenfleck, der keine Wärme abgab, und das wütende Brüllen des Löwen wurde abgeschnitten.
Ihr Sturz endete auf einer festen Unterlage, die in einem normalen Universum der Erdboden gewesen wäre. Statt dessen war sie eine holprige, aus diversen Teilelementen zusammengestückte Fläche, schräg wie ein Berghang. Der Grund, wenn man von einem solchen sprechen konnte, war ein eigentümliches Flickwerk, in dem die verschiedensten Farben träge von einem Teilstück zum anderen liefen und von gezackten Adern in einem matten, stumpfen Weißton durchschnitten waren, Knochen ähnlich, die durch eine aufgerissene Haut bleckten. Aber am befremdlichsten war, daß viele Stellen dieser surrealen Umgebung – und erschreckenderweise auch die ganze weite Fläche, die der Himmel hätte sein müssen – gar keine Farbe hatten. Aber keine Farbe, erkannte sie, bevor ihr der Anblick zuviel wurde und sie die Augen schließen mußte, war nicht schwarz oder weiß und auch nicht das Grau der Signalstille. Es war schlicht und einfach … keine Farbe.
»Meine Güte«, stöhnte Renie nach einer längeren Pause halb ehrfürchtig und halb entsetzt. »Wo sind wir, !Xabbu ? Und wie hast du das angestellt?« Sie machte die Augen einen Spalt weit auf und sah sich nach ihrem Freund um. Was sie am Rand ihres Gesichtsfeldes an Landschaft erblicken konnte, waren schroffe Umrisse mit Andeutungen von klotzigen, unförmigen Dingen, die Berge oder Bäume darstellen mochten, aber schon vom bloßen Hinschauen tat ihr der Kopf weh.
!Xabbu lag auf der Seite, seine schmale Brust bewegte sich kaum. Seine Pupillen waren nach hinten unter die Lider gerutscht.
Renie kroch zu ihm hin. Der Boden unter ihm besaß visuelle Tiefe, als ob der Pavian auf einer Glasscheibe über einem bewölkten Himmel lag. Einen Moment lang hatte sie die schwindelerregende Gewißheit, daß sie und er durch das Glas hindurch ins Nichts stürzen würden, doch der unsichtbare Grund war so hart und fest wie gestampfte Erde.
» !Xabbu ?« Er gab keine Antwort. Sie schüttelte ihn, sanft zunächst, aber dann immer heftiger. » !Xabbu , sag doch
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