Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer
und gestattete es damit !Xabbu , seine Hand in ihre Tasche zu stecken.
»Ich hätte es wissen müssen«, sagte er, als er Azadors funkelndes Feuerzeug an die Morgensonne hielt. »Es sprach, doch ich hörte nicht darauf.«
Die Schar der Beobachter bewegte sich abermals, doch statt anzugreifen, zogen sie sich so rasch ins Unterholz zurück, daß es beinahe aussah, als ob sich ihre entstellten Körper verflüssigten. Renie wurde nicht daraus schlau, aus diesem scheinbar grundlosen Rückzug sowenig wie aus dem noch unbegreiflicheren Verhalten ihres Freundes.
» !Xabbu , was … was machst du?« stieß sie hervor.
»Dies ist ein Ding, das nicht hierhergehört.« Er drehte das Feuerzeug hin und her, als hoffte er, ein geheimes Zeichen zu entdecken. »Ich hätte es schon vorher wissen müssen, aber ich habe mich durcheinanderbringen lassen. Die ersten Menschen riefen mich, aber ich hörte nicht.«
»Ich versteh nicht, was du da redest!« Die mißgebildeten Kreaturen waren fort, aber ihre innere Anspannung war nicht geringer geworden. Ein Zweig knackte irgendwo in der Nähe, laut wie ein Knallkörper. Etwas stampfte durch den Urwald auf sie zu, ohne sich um Heimlichkeit zu bemühen. Renie streckte die Hand nach ihrem geistesabwesenden Freund aus, da trottete schon eine Gruppe dunkler, aufrechter Gestalten zwischen den Bäumen hervor und blieb am Rand der Lichtung stehen.
Es waren vielleicht sechs oder sieben mächtige, zottige, bärenartige Wesen, aber durchaus nicht schlicht und einfach Bären. Aschgraue Moosflecken wuchsen auf ihren Pelzen, und seitlich im Hals verwurzelte Lianen ringelten sich lebendig wie Würmer durch das Fell nach unten, wo sie im Schritt und im Knie wieder in den Leib eindrangen. Doch das Schlimmste war, daß dort, wo die Köpfe hätten sein sollen, die hirnlos grinsenden und mit zahnartigen Stacheln gesäumten Mäuler fleischfressender Pflanzen in großen, glänzenden violetten und grünen Hülsen klafften, die direkt aus ihren kurzen Hälsen sprossen.
Während diese Monster schwer schnaufend und mit ruckartig pumpender Brust abwarteten, kam noch jemand aus dem Wald gestapft und baute sich vor den Pflanzenbären auf, eine Gestalt, die zwar nicht ganz so groß, aber dennoch weitaus fülliger war als ihre Kolosse von Dienern. Die winzigen Augen funkelten vor Vergnügen, und der schlaffe Mund verzog sich zu einem Grinsen, das in verschiedenen Längen abgebrochene gelbe Hauer zum Vorschein brachte.
»So, so«, grollte der Löwe. »Da hat der Blechmann wohl schlecht funktioniert, wenn ihr ihm entwischen konntet. Aber sein Pech ist mein Glück, denn jetzt mache ich das Spiel. Ah! Das muß die Dorothy sein, und ihr … Behältnis.« Er tat einen watschelnden Schritt auf Emily zu, die wie ein verletzter Krebs wegkrabbelte; der Löwe lachte. »Herzlichen Glückwunsch zu deiner Mutterschaft, kleines Emilywesen.« Er schraubte seinen knubbeligen Kopf zu Renie und !Xabbu herum. »Ein Bildhauer hat einmal gesagt, die Statue sei bereits im Marmor enthalten, und der Künstler tue nichts weiter, als alles Überflüssige zu entfernen.« Er lachte wieder. Spucke glänzte auf der vorgeschobenen Unterlippe. »Genauso sehe ich das mit der Dorothy.«
»Was soll das alles?« ereiferte sich Renie, doch sie wußte sehr wohl, wie klein und verzagt ihre Stimme klang, wie gering ihre Kraft selbst im Vergleich zu einem der gräßlichen Pflanzenbären war. Hoffnungslosigkeit breitete sich in ihr aus. »Das ist alles ein Spiel, stimmt’s? Nichts weiter als ein grausames Spiel!«
»Aber es ist unser Spiel – mein Spiel jetzt.« Der Löwe lächelte süffisant. »Ihr seid die Eindringlinge. Und wie heißt es so schön? Unbefugte Eindringlinge werden gefressen!«
Renie zermarterte ihr Gehirn, um auf irgend etwas zu kommen, was ihnen gegen den Löwen oder den anderen Zwilling helfen könnte, aber ihr fiel nichts ein. Sie seien furchterregend, hatte Azador ihr erzählt. Sie waren auch unvorstellbar grausam.
»Ich fühle etwas«, sagte !Xabbu beinahe heiter. Renie starrte ihn fassungslos an. Er seinerseits hatte den Blick immer noch auf das Feuerzeug in seinen Händen gerichtet, als ob der Löwe, seine hirnlosen Sklaven und alles andere gar nicht existierten. »Etwas …«
» !Xabbu , die werden uns umbringen!« Bei Renies Worten wimmerte die zu ihren Füßen liegende Emily los. Durch Renies Angst zuckte ein kurzer Zornesblitz – konnte dieses Ding gar nichts anderes tun als heulen und jammern?
»Die?« !Xabbu sah auf,
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