Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer
Scheitel, zauste ihm beinahe leidenschaftlich die Haare und schob ihn dann zu Paul. »Durch mein Schlafzimmer. Ich werde es so aussehen lassen, als wärt ihr mit Gewalt eingedrungen.«
»Aber dir gehört das hier!« Paul packte den Jungen am Arm und zog ihn zur Schlafzimmertür. »Du klingst, als hättest du Angst vor ihnen.«
»Alle haben Angst vor ihnen. Schnell jetzt!«
Sie kamen tief gebückt aus dem engen Gang herausgelaufen, Paul so tief, daß er praktisch auf allen vieren ging. Als sie in das hell erleuchtete Gedränge auf dem Markusplatz hinausstürzten, stolperte Gally mitten in eine Schar von Zechern, was zu einem großen Torkeln, Fluchen und Weinvergießen führte. Paul, der ihm dicht auf den Fersen folgte, prallte gegen einen der taumelnden Fremden und ging zusammen mit dem Mann zu Boden.
»Gally!« schrie er, während er sich mühsam aufrappelte. »Gally, warte!«
Er und der Fremde hatten sich in ihren Umhängen verheddert. Als Paul sich loszureißen versuchte, versetzte ihm der andere einen Schlag aufs Ohr und rief: »Verdammt nochmal, laßt los!« Er stieß den Mann abermals zu Boden und sprang über ihn hinweg, doch sein Widersacher haschte nach seinem Fuß und brachte ihn zum Straucheln. Als er sich endlich gefangen hatte, hatte sich die Menge schon wieder um ihn geschlossen, und der Junge war nirgends zu sehen.
»Gally! Mohrchen!«
Während er noch schrie, berührte ihn ein unsichtbares Etwas wie eine kalte Hand, so daß sich ihm sämtliche Nackenhaare aufstellten. Er wirbelte herum und sah in den dunklen Bögen an der Seite des Markusdoms zwei sich umblickende weiße Gesichter. Die Masken schienen körperlos über den dunklen Gewändern zu schweben, wie Irrlichter.
Eine Hand umfaßte seinen Unterarm, sichtbar und wirklich, und Paul schnappte nach Luft. »Was habt Ihr vor?« zeterte Gally. »Ihr könnt nicht kämpfen. Wir müssen fliehen!«
Erst als er seinen heruntergefallenen Unterkiefer wieder hochklappte und dem Jungen in das nächtliche Treiben folgte, erkannte Paul, wie wahr die Worte des Jungen waren: Er hatte sein Schwert in Eleanoras Gemächern vergessen.
Gally führte ihn in nördlicher Richtung über den Platz, um Knäuel von Feiernden herum und manchmal auch mitten hindurch. Wo der Junge sich vorbeidrängeln konnte, ohne mehr als einen Fluch oder einen halbherzigen Tritt zu provozieren, hatte Paul es schwerer; als er schließlich am Rand des Platzes angelangt war, hatte er mehrmals vor angedrohten Schlägen Reißaus nehmen müssen und seinen kleinen Führer abermals aus den Augen verloren. Und ein Blick zurück auf ihre Verfolger machte ihm das Herz auch nicht leichter: Ein Trupp von Pikenieren kam in raschem Trab aus dem Dogenpalast und schwärmte bereits zielstrebig über den Markusplatz aus. Wie es aussah, wollte sich das scheußliche Paar nicht allein auf das eigene jägerische Können verlassen.
»Paul!« rief der Junge unter den Arkaden nahe dem großen Uhrturm am Rande des Platzes hervor. »Hier lang.« Als Paul ihm hinterherkam, bog er in eine schmale Passage ein und eilte über einen Hof auf eine gewundene Straße, wo die Marktstände trotz der späten Stunde noch lebhafte Geschäfte machten. Mehrere hundert Meter vom Markusplatz entfernt tauchte Gally dann in eine noch kleinere Gasse ein. An ihrem Ende überquerte er eine dunkle Straße und sprang ein paar Stufen zu einem Weg am Ufer eines Kanals hinab.
»Sie haben uns auch Soldaten auf den Hals gehetzt«, keuchte Paul, als er seinerseits die steinerne Treppe hinunterholperte. Er senkte die Stimme, da gerade eine Gruppe schattenhafter Gestalten in einem schwankenden Boot laut singend vorbeifuhr. »Ein Glück, daß so viele Leute auf den Straßen sind.« Er stockte. »Du hast meinen Namen gerufen, stimmt’s? Erinnerst du dich jetzt an mich?«
»Ein bißchen.« Der Junge gab einen unwilligen Laut von sich. »Weiß nicht. Nehm’s an. Auf jetzt, wir müssen uns beeilen. Wir können zum Großen Kanal abbiegen, uns ein Boot nehmen, das gerade niemand benutzt…«
Paul legte ihm die Hand auf die Schulter. »Immer langsam. Das ist doch die Hauptverkehrsader durch diese Stadt und außerdem der einzige Weg, auf dem man mit Sicherheit hier rauskommt. Sie werden überall am Kanal nach uns suchen. Gibt es keinen anderen Weg zu diesem Kreuzträgerhospiz?«
Gally zuckte mit den Achseln. »Wir können mehr oder weniger direkt durch die Stadt gehen – quer durch den Zipfel von Castello nach Cannaregio rein.«
»Gut. Das
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