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Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer

Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer

Titel: Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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mußte Paul darüber nachgrübeln, wer Gally und die anderen Austernhauskinder wirklich waren, welche Rolle sie in alledem spielen mochten. Waren sie entflohene Gefangene so wie er? »Du hast diesen Schwarzen Ozean schon mehrmals erwähnt, aber ich kann mir nichts darunter vorstellen«, sagte er zu dem Jungen. »War er ein Ort wie diese …« Ihm ging auf, daß der Begriff »Simulation« Gally wahrscheinlich nichts sagte. »War er ein Land wie der Achtfeldplan oder wie hier – wie Venedig?«
    Eine Weile war Schweigen. »Eigentlich nicht.« Gally hatte aufgehört zu weinen, aber sprach immer noch stockend. Paul erinnerte sich plötzlich, wie er seinerzeit erschrocken festgestellt hatte, daß der schlafende Junge nicht atmete. Er legte sich die Hand auf die Brust, fühlte die langsame, gleichmäßige Bewegung. Auch wenn das hier eine Simulation war, wieso sollte er dann atmen, als ob er in seinem wirklichen Körper wäre, und Gally nicht? »So richtig kann ich mich nicht erinnern«, fuhr der Junge fort, »aber es war dunkel … einfach dunkel. Nicht wie hier jetzt, sondern ewig dunkel. Und ganz lange gab es nichts außer mir und Gott.«
    »Außer dir und … Gott?«
    »Ich weiß nicht. Irgendwer war da im Dunkeln, irgendwie überall um mich her, und ich hab die Stimme in meinem Kopf reden gehört. Bloß die eine Stimme. Sie sagte mir, wer ich wäre. Sie sagte mir, ich würde an einem neuen Ort leben, und … und … sonst weiß ich nichts mehr.« Gallys nachdenklicher Ton verging. »Wir sollten los.«
    »Herrje, du hast recht.« Paul kroch unter der Brücke hervor und wäre beinahe auf dem schmutzigen Ufer abgerutscht und in den Kanal gefallen. Der Nachthimmel wirkte unheimlich nahe, die Sterne wie ein festgefrorenes Feuerwerk. »Hätte ich beinahe vergessen«, murmelte er und mußte über sich selbst staunen. Alle diese Rätsel, wie faszinierend sie auch waren, konnten warten, bis sie in Sicherheit waren. Gally kraxelte an ihm vorbei und trabte wieder die Gasse zurück. Paul schloß sich ihm an.
    Aber wo in Sicherheit? dachte er. Die Vogelfrau hat mir gesagt, ich soll die Weberin finden. Und was meinte Nandi, wo die wäre – in Ithaka? Damit dürfte wohl Griechenland gemeint sein, irgend so ein griechischer Mythos. Aber gibt es in den USA nicht auch ein Ithaca? Eine kleine Stadt im Staat New York oder so?
    Sie eilten durch die Straßen. Die wenigen Leute, an denen sie hier vorbeikamen, waren unkostümiert und schienen mit Feiern wenig im Sinn zu haben, abgesehen davon, daß ein paar ziemlich betrunken waren. Sie mußten sich noch zweimal vor Soldaten verstecken, aber ihre Verfolger kamen ihnen nicht mehr so nahe wie beim erstenmal. Selbst die Männer des Dogen waren anscheinend zu dem Schluß gekommen, daß die Chancen, im Wirrwarr der Karnevalsnacht Flüchtlinge zu fangen, gering waren.
    »Wir sind jetzt in Cannaregio«, flüsterte Gally nach einem erneuten langen Dauerlauf, über das Tappen ihrer Füße auf den Steinen hinweg kaum zu hören. »Nicht mehr sehr weit.«
    Der Junge führte ihn mit der leichtfüßigen Sicherheit eines Fuchses, der nach Hause zu seinem Bau trabt, durch dunkle Gassen und über leere Plätze. Paul kam unwillkürlich der Gedanke, was für ein Glück es war, daß er Gally hier als Führer hatte. Im Grunde hatte er bisher in allen Simulationen Glück gehabt, und auch das war ein wichtiger Punkt, den er nicht vergessen durfte. Wie in der wirklichen Welt konnte man in diesem Netzwerk Überraschungen erleben, konnte einem Gutes widerfahren, echte Herzlichkeit. Anscheinend konnte die Bruderschaft ihre VR-Welten nicht wahrhaft realistisch gestalten, ohne wenigstens auch ein paar der freundlicheren Seiten der Realität mit hineinzunehmen. Das wollte er sich merken, um es sich vorzuhalten, wenn die Verzweiflung ihn das nächste Mal packte, wie es mit ziemlicher Sicherheit geschehen würde.
    Der Nebel wurde dichter, je weiter die Nacht in die letzten Stunden vor Morgengrauen vorrückte. Paul suchte ihn wegzuwedeln, doch er ließ sich nicht vertreiben, sondern floß gleich wieder dorthin zurück, wo er eben weggewedelt worden war.
    »Salzwassernebel«, erklärte Gally, der durch die Schwaden hindurch kaum zu sehen war. »Von der See. Die Leute sagen auch ›Brautschleier‹ dazu.«
    Nur Menschen, die sich mit dem Meer verheiratet fühlten, hatte Paul den Eindruck, konnten so einem ekligen, feuchten Zeug einen so romantischen Namen geben.
    Tatsächlich ließ der Dunst vom Meer das

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