Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer
Sicherheitsvorkehrungen.
Die hängenden Blütenblätter der Christabelblume klagten ihn an. Das Problem erforderte eine diskrete Untersuchung und vielleicht eine ebenso diskrete Lösung, aber er hatte noch nicht genug Informationen darüber, worin die Veränderung bestand. Er ließ seinen Blick weiterwandern.
Sellars wurde allmählich müde. Er sah nur kurz nach dem einzelnen grünen Trieb, der Paul Jonas darstellte. Eine Zeitlang, exakt bis zu dem Moment, wo Sellars’ verwegener Plan geglückt war, Jonas den Ausbruch in das System zu ermöglichen, war der Jonassproß das Zentrum eines Dickichts von Plänen und Handlungen gewesen. Doch jetzt war der Mann fort, im System verschollen, und selbst Sellars mit seinen außerordentlichen Überwachungsfähigkeiten konnte ihn nicht mehr erreichen und beeinflussen. Aber die zentralen Fragen um Paul Jonas blieben unbeantwortet.
Wie konnte ein einzelner Mann dermaßen gefährlich für die Bruderschaft sein, daß sie ihn im System gefangenhielt und jeden Hinweis darauf beseitigte, daß es ihn in der wirklichen Welt jemals gegeben hatte? Warum brachten sie einen, der, einerlei aus welchen Gründen, eine solche Bedrohung für sie darstellte, nicht einfach um? Sie hatten viele hundert andere umgebracht, von denen Sellars mit Sicherheit wußte.
Er fühlte ein Kopfweh kommen. Immer noch zuviel Garten, nicht genug Kröten.
Alles war im Fluß, und die neuen Muster, die sich herausbildeten, konnte er noch nicht entschlüsseln. Manche waren eher Lichtblicke, aber andere erfüllten ihn mit Verzweiflung. Sein kugelförmiger Garten stellte die Hoffnungen und Ängste von Milliarden dar, und das Spiel, auf das Sellars sich eingelassen hatte, war unglaublich riskant. Ob er in einer Woche, in einem Monat immer noch einen strotzenden Dschungel vor sich hatte? Oder waren dann alle Pflanzen außer denen der Bruderschaft der Fäulnis zum Opfer gefallen, waren alle anderen Triebe und Stengel und Blätter eingegangen und im Begriff, Dung zu werden für die giftigen Blüten von Felix Jongleur und seinen Freunden?
Und was war mit Sellars’ eigenem Geheimnis? Dem Geheimnis, das nicht einmal seine wenigen Verbündeten ahnten und das selbst in dem höchst unwahrscheinlichen Falle eines wunderbaren Sieges über den Gral den Garten dennoch in eine Wüstenei aus grauer Asche und verseuchter Erde verwandeln konnte?
Er quälte sich nur selbst, erkannte er, und völlig vergeblich: Er durfte nicht das geringste Quentchen Zeit oder Kraft an fruchtloses Kopfzerbrechen verschwenden. Wenn er etwas war, dann ein Gärtner, und ob die Zukunft ihm nun Regen oder Dürre, Sonne oder Frost bescherte, er konnte es nur nehmen, wie es kam, und sein Bestes tun.
Sellars schob die finstersten Gedanken beiseite und machte sich wieder an die Arbeit.
Kapitel
Tod und Venedig
NETFEED/NACHRICHTEN:
»Fax dich selbst!« sagen die Chinesen
(Bild: Jiun Bhao und Zheng bei der Eröffnung der Naturwissenschaftlichen und Technischen Hochschule)
Off-Stimme: Der chinesische Wissenschaftsminister Zheng Xiaoyu gab heute bekannt, die Chinesen hätten im Wettlauf um die Verwirklichung der »Teleportation«, einer in Science-fiction-Filmen gern angewandten Technik der Zukunft, einen großen Sprung nach vorn getan. Auf einer Pressekonferenz während der Einweihungsfeierlichkeiten für die neue Naturwissenschaftliche und Technische Hochschule in Tainan — die frühere Chengkung-Nationaluniversität — erklärte Zheng, chinesische Forscher ständen dicht davor, das Problem der »Antiteilchensymmetrie« zu lösen, und er habe keine Zweifel, daß die Übertragung von Materie, auch Teleportation genannt, binnen einer Generation, vielleicht schon in der Mitte des nächsten Jahrzehnts, Realität sein werde. Doktor Hannah Gannidi von der Cambridge University sieht das nicht so optimistisch.
(Bild: Doktor Gannidi in ihrem Büro)
Gannidi: »Sie haben uns nicht viel sehen lassen, und das wenige, was wir gesehen haben, läßt eine Menge Fragen offen. Ich will nicht behaupten, sie hätten keinen wichtigen Fortschritt erzielt — einige von Zhengs Leuten sind wirklich phänomenal —, aber man sollte meines Erachtens noch keine konkreten Pläne dafür machen, sich im Urlaub kurz mal nach Hause zu faxen …«
> Die weißen Masken der Komödie und der Tragödie schwebten durch die dunkle Basilika auf ihn zu, doch gerade jetzt, wo Paul sich unbedingt in Bewegung setzen mußte, schien die Angst ihm die Knochen in den Beinen und im
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