Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer
Garten geworden war. In Kunoharas Online-Projekt war ein schwerer Defekt aufgetreten, obwohl sogar die Privatgespräche der Ermittler, die Sellars hatte abhören können, darauf hindeuteten, daß sie keine Ahnung hatten, wie der Kollaps mit dem Tod der Wissenschaftler zusammenhängen könnte.
Die diversen Propagandaabteilungen der Bruderschaft waren bereits emsig dabei, die Ermittlungen aufzuspalten und durcheinanderzubringen, und bei ihren schier unerschöpflichen Mitteln konnte ihnen das durchaus gelingen, aber allein die Tatsache, daß der Defekt aufgetreten war und derart spektakuläre Schlagzeilen gemacht hatte, war sonderbar. Wieso ließ es die Bruderschaft geschehen, daß so viele medienbekannte Personen in ihrem Netzwerk starben? Verloren die Gralsbrüder die Kontrolle über ihr eigenes System? Oder waren sie inzwischen zu mächtig, zu weit in der Verwirklichung ihres Plans fortgeschritten, um sich darum noch zu kümmern?
Nachdem er jede dieser kleinen botanischen Neuheiten eingehend betrachtet hatte, sowohl für sich als auch im größeren ökologischen Kontext, begab sich Sellars weiter.
Während seine Systeme Informationen sortiert hatten, die ihm die unendlich vielen an seinen Garten angeschlossenen Quellen lieferten, waren neue Pflanzen hervorgesprossen und hatten beinahe unbemerkt zu wachsen begonnen, aber einige waren neuerdings derart in die Höhe geschossen, daß er nicht mehr an ihnen vorbeikam.
Eine repräsentierte einen Rechtsanwalt in Washington, der über Salome Fredericks und Orlando mit dem Gartenmodell verknüpft war und dessen vegetabiler Avatar eifrig Wurzeln in alle Richtungen aussandte. Einige dieser Wurzeln hatten sich so rasch und so weit ausgedehnt, daß Sellars selbst immer staunen mußte, an welchen neuen Orten er nun schon wieder auf sie stieß. Dieser Anwalt, Ramsey mit Namen, führte seinerseits fast so schnell, wie Sellars ihm folgen konnte, eine Suche in der Informationssphäre durch und schien eine weitgehende und symbiotische Verbindung zu der Pflanze aufgenommen zu haben, die Orlando Gardiners System in der wirklichen Welt symbolisierte.
Sodann gab es ein mysteriöses Blütentreiben in australischen Polizeinetzwerken, das sich sowohl mit dem Gartenabschnitt des sogenannten Kreises berührte – Sellars wußte, daß er demnächst einmal gründlich über den Kreis nachdenken, vielleicht einen ganzen Tag Gartenarbeit nur dafür einlegen mußte – als auch mit Jongleur und sogar mit dem Pilzgeflecht des Andern. Er hatte keine Ahnung, wieso. Noch mehr Fragen.
Irene Sulaweyos RL-Pflanze, weitaus besser beobachtbar als diejenige, die ihre Aktivitäten innerhalb des Otherlandnetzwerks symbolisierte, hatte ebenfalls beunruhigende Tendenzen entwickelt – Stengel wuchsen in merkwürdigen Winkeln, Blätter welkten mit dem plötzlichen Verkümmern der Information, die sie darstellten. Er erinnerte sich dunkel, daß sie problematische Familienverhältnisse hatte, und natürlich war das Koma ihres Bruders der ursprüngliche Anlaß gewesen, der sie hierhergeführt hatte. Sellars konnte für ihre Online-Person nicht mehr tun, als er bereits tat, aber er hoffte, daß ihr physischer Körper sicher war, und nahm sich vor zu schauen, was er über ihre Situation in Erfahrung bringen konnte.
Als letztes, und für ihn persönlich am bedrückendsten, kam die schimmernde blasse Blume, die die kleine Christabel Sorensen verkörperte. Trotz allem, was er ihr zugemutet hatte, trotz der ganzen Risiken, in die er sie gestürzt hatte, hatte sie bis vor vierundzwanzig Stunden noch aufs schönste geblüht. Aber jetzt hatte er sie seit zwei Tagen nicht erreichen können, und sie hatte das Zugangsgerät, das er ihr geschenkt hatte – die neue MärchenBrille –, nicht aufgesetzt, um seinen letzten Anruf anzunehmen; die Anzeigen deuteten darauf hin, daß es kaputt oder außer Betrieb gesetzt war. Es konnte ja etwas so Simples wie ein Defekt sein, aber eine Überprüfung der Datenbanken des Stützpunkts ergab, daß Christabel gestern nicht in der Schule gewesen war und daß ihr Vater bei seiner Dienststelle angerufen und sich den Tag freigenommen hatte – wegen »familiärer Probleme«, wie dem System zu entnehmen war.
Das alles bereitete ihm große Sorgen, nicht nur um Christabels willen, sondern auch seinetwegen. Er hatte sich von dem Kind abhängig und damit angreifbar gemacht, aber er hatte zu der Zeit einfach keine andere Möglichkeit gesehen. Es war eine äußerst schwache Stelle in seinen
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