Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer
Andern nicht auszulöschen, flackerte dabei in meinem Hinterkopf der Schock und die Trauer über die Einsicht, daß jemand, der ein guter Gefährte gewesen war, fast ein Freund, sich als Verräter erwiesen hatte. Als ob das namenlose Grauen nicht genug wäre, mußten wir uns jetzt in diesen Katakomben auch noch vor unserem einstigen Verbündeten fürchten, der unerklärlicherweise zum Mörder geworden war. Oder war er die ganze Zeit über schon so gewesen und hatte sich bloß verstellt? Hatte uns jemand William als Spion auf den Hals gehetzt? Die Bruderschaft? Wurde alles, was wir herausfanden, besprachen, planten, diesen Leuten sofort gemeldet, während wir weiter durch dieses neue Universum stolperten?
Wir hatten vermutet, daß unsere Chancen nicht besonders gut waren. Das war offenbar noch viel zu optimistisch gewesen.
Meine Gedanken machten auf einmal einen jähen Ruck, als ob sie einen Schlag bekommen hätten. Irgendwo, am äußersten Rand meiner inneren Dunkelheit, fühlte ich etwas Neues. Es ist mir nach wie vor unmöglich, den Input meiner veränderten Sinneswahrnehmung allein mit Worten zu erklären, aber ich spürte eine Verzerrung der Informationsmuster, eine winzige Unstimmigkeit im Raum selbst, eine dünne Stelle, so als ob jemand von außen an seiner Wirklichkeit gekratzt hätte, bis man beinahe hindurchschauen konnte. Aber was konnte das heißen? Es war alles so neu, ist immer noch so neu, daß selbst ich kaum über Denkfiguren verfüge, die es fassen könnten. Irgend etwas wurde verändert, mehr konnte ich nicht erkennen; irgend etwas bohrte ein Loch in unseren Raum.
Nachdem ich die Fähigkeit, bewußt zu denken, einigermaßen zurückgewonnen hatte, fragte ich mich, ob ich vielleicht einen der Punkte entdeckt hatte, wo Durchgänge sich auftaten. Ich durfte nicht allzu lange darüber nachdenken – wir wurden von einem Wesen gejagt, dessen Größe und Fremdartigkeit unsere Vorstellungskraft überstieg. Ich war einmal damit in Berührung gekommen. Einen zweiten Kontakt glaubte ich nicht überleben zu können.
Während meine Gefährten vor Anstrengung und Furcht keuchten und um Atem rangen, konzentrierte ich mich auf diese dünne Stelle in dem mich umgebenden imaginären Universum, aber wie sehr ich sie auch untersuchte, antastete, zu beeinflussen suchte, die Öffnung blieb potentiell. Ich begab mich so tief in die Dunkelheit hinein, daß mein Kopf zu pochen begann, aber es gab keine Zugangsmöglichkeit, keine Nahtstelle oder Ritze, die ich mir mit meinem mangelhaften Verständnis hätte zunutze machen können. Es war, als wollte ich einen Banktresor mit den Fingernägeln aufbrechen.
Die Schmerzen in meinem Kopf waren wie die Vorboten eines Schlaganfalls, und ich wollte gerade aufgeben, als ich etwas sah – das allerwinzigste, allerkürzeste Aufblitzen eines Bildes, als ob jemand eine Mikrosekunde lang eine visuelle Eingabe auf meinen Sehnerv projiziert hätte. Ja, ich sah es – sah. Das Bild war bizarr – ein verzerrter, nicht ganz menschlicher Umriß vor einem leeren grauen Hintergrund –, doch selbst in diesem Sekundenbruchteil erschien es mir deutlicher als alles, woran ich mich aus Träumen erinnern konnte. Ich habe schon seit Jahrzehnten nicht mehr so gesehen, und erst glaubte ich wirklich an einen Schlaganfall, ein Trugbild im Augenblick des totalen Zusammenbruchs, glaubte, vor lauter angestrengter Konzentration sei in meinem Gehirn eine Ader geplatzt – und trotzdem haschte ich weiter danach. Da hörte ich eine Stimme, so flüsterzart, als wäre sie durch außerordentliche akustische Umstände in einer klaren Nacht aus meilenweiter Entfernung herangeweht worden. Es war Renies Stimme – Renies Stimme! –, und sie sagte: ›… sie finden? Können sie …?‹
Verblüfft rief ich laut: ›Renie?‹
Die anderen müssen gedacht haben, ich sei endgültig verrückt geworden. Ich wurde abermals am Arm gezogen. ›Martine, da hinten ist jemand!‹ jammerte Quan Li. ›Ich glaube, es ist William – ich glaube, er verfolgt uns!‹
Ich schüttelte sie ab, denn ich wollte den Kontakt unbedingt aufrechterhalten. Die Silhouette tänzelte vor mir, aber sie war unvorstellbar vage und löste sich an den Rändern in ein fraktales Gefussel auf, und je mehr ich mich darauf konzentrierte, um so verschwommener wurde sie. Der unheimliche graue Himmel hinter der bewegten Gestalt war das einzige Licht, das durch meine innere Dunkelheit drang, und ich streckte mich danach aus, um irgendwie durch das Loch in
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