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Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer

Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer

Titel: Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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sanft gerundeten, beinahe kindlichen Bauch präsentierte, und seiner eigenen Verklemmtheit und Sehnsucht zum Trotz, hatte ihre Erscheinung nichts sexuell Aufreizendes. Ihre dick schwarz geschminkten Augen schienen durch ihn hindurchzuschauen. Sie hielt etwas an der Brust, aber ihre dunklen Haare, die in langen, dicken Zöpfen herabhingen, machten es zunächst unkenntlich. Erst als sie so nahe herangeschwebt war, daß er sie im Wachleben hätte berühren können (im Traum jedoch schien er unbeweglich zu sein, ein körperloser Betrachter), und ihm ihre Hand hinstreckte, sah er, daß es eine schillernde Feder war, so lang wie ihr Unterarm und von einer Farbe, für die er keinen Namen hatte.
    Wer bist du? fragte er oder meinte er zu fragen.
    Ich bin Ma’at, antwortete sie. Die Göttin der Gerechtigkeit. Wenn deine Seele im Endgericht gewogen wird, wird diese Feder, das Gewicht der Wahrheit, auf der anderen Waagschale liegen. Wenn deine Seele schwerer ist, wirst du in die äußere Dunkelheit verstoßen. Steigt aber deine Waagschale, darfst du mit den anderen Gerechten und Frommen in die Barke des Re einsteigen und wirst in den Westen übergesetzt, um dort ein seliges Leben zu führen.
    Sie erklärte das mit der ruhigen Selbstverständlichkeit einer Reiseführerin oder einer Off-Stimme in einer Doku. Obwohl er sie vorher noch nie gesehen hatte, kam ihm etwas an ihr bekannt vor, aber sein Traumbewußtsein konnte die Erinnerung daran nicht abrufen.
    Warum erzählst du mir das alles? fragte Orlando.
    Weil das meine Aufgabe ist. Weil ich zu den Göttern hier gehöre. Sie schwieg einen Moment und machte den Eindruck, ein wenig aus dem Konzept zu sein, als ob Orlandos Frage unerwartete Probleme aufgeworfen hätte. Weil ich nicht weiß, wer du bist, aber du seit einiger Zeit die Grenzlande durchstreifst, sagte sie schließlich. Deine Gegenwart stört mich.
    Grenzlande? Orlando versuchte zu verstehen, was sie meinte, aber die Göttin Ma’at zerrann in die Dunkelheit. Was für Grenzlande?
    Sie gab keine Antwort. Als er aufwachte, brannte immer noch die spätnachmittägliche Sonne am Himmel. Er nieste, und die Anstrengung, die Lungen vollzupumpen, vertrieb die Traumgöttin aus seinen Gedanken.
     
    Die fünfte Nacht in der Wüste war halb vorbei, und noch immer machte der Sand keine Anstalten aufzuhören oder auch nur einmal anders auszusehen. Der Nil wand sich durch das leere Land in die sternenhelle Ferne, bis er nur noch als ein schlaffer schwarzer Faden erschien. Die Dünen dehnten sich vor ihnen ins Endlose aus, und je nachdem, wie ab und zu der Wind darüber hinging, wandelten sie sich ständig, blieben sie sich ständig gleich.
    Aber irgend etwas war anders.
    Fredericks bemerkte es auch. »Hörst du … hörst du was?«
    Orlando, der sich verbissen durch den knöchelhohen Sand schleppte, schüttelte den Kopf. »Es ist kein Geräusch.«
    »Was meinst du damit?«
    »Es ist kein Geräusch.« Er schöpfte tief Atem und stapfte noch langsamer und bedächtiger Schritt für Schritt voran. »Ich spür’s schon ’ne ganze Weile. Es ist eine Schwingung, irgendwie, aber es ist beinahe auch ein Geruch. Es ist ein Haufen Sachen, aber erst kam es mir auch wie ein Geräusch vor. Es ist schon seit einiger Zeit vor uns, und es wird stärker.«
    »Ja, genau, langsam kommt es mir auch so vor.« Fredericks erschauerte. »Was meinst du, was es ist?« Er bemühte sich, seine Stimme in den tieferen Lagen zu halten.
    »Ich weiß nicht. Nichts Gutes, soviel steht fest.«
    »Was sollen wir tun?«
    »Was können wir tun? Weitergehen. Was anderes bleibt uns nicht übrig, Frederico, schon vergessen?«
    Die Empfindung wurde immer stärker und intensiver. Was anfangs nicht lästiger gewesen war als eine brummende Fliege oder ein schwach säuerlicher Geruch in der Nase, ging bald dazu über, Orlandos Gedanken zu beherrschen. Ihm war, als hätte er ein pochendes Kopfweh, das aber nicht in seinem Schädel, sondern irgendwo außerhalb saß, weit weg.
    Aus dem Gefühl heraus, daß sie dem Ding, was es auch sein mochte, auf jeden Fall lieber aus dem Weg gingen, und sei es nur zu ihrer Beruhigung, änderten sie die Richtung. Der Nil war hier so breit, daß das andere Ufer selbst im hellen Mondschein nicht zu erkennen war, deshalb versuchten sie gar nicht erst, den Fluß zu überqueren, sondern bogen in die westliche Wüste ab. Aber der Richtungswechsel änderte nichts an ihrem Gefühl, daß direkt vor ihnen etwas auf sie wartete. Es erfüllte jetzt die Nacht

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