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Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer

Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer

Titel: Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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wenig verantwortlich fühlt. Vielleicht ist er in anderen Träumen.
    Orlando drehte sich um und sah sie neben sich schweben, einen kaum von der Nacht zu unterscheidenden Schatten, die Feder immer noch fest in der Hand, als wäre sie eine Abwehrwaffe gegen die unmögliche schwarze Pyramide.
    Kannst du mir nicht helfen? Er wandte sich wieder zu dem Riesenumriß um, der sich dermaßen in alle Richtungen ausdehnte, daß es auf dieser Seite der Welt nichts anderes mehr zu geben schien. Ich komme nicht an diesem Ding vorbei. Wir werden hier sterben, wenn uns niemand hilft.
    Du kannst ihm nicht aus dem Weg gehen, sagte sie nicht unfreundlich. Eine derartige Geschichte gibt es nicht. Er ist im Mittelpunkt von allem hier. Man muß sich ihm stellen.
    Ist er… ist er Osiris?
    Ihr Gesicht war zwar in der Dunkelheit schwer zu erkennen, doch man hatte den Eindruck, daß es sich wie vor Schmerz verzog. Nein, sagte sie. Nein, der, welcher dein Leben will, ist weitaus unfaßbarer als jener. Es ist der Gott Seth, der Schläfer, der das rote Land regiert. Er ist der Eine, der dies alles träumt – wir sind seine Albtraumgeschöpfe. Er träumt auch euch.
    Er hatte diese Worte schon einmal irgendwo gehört. Wer bist du? fragte er eindringlich.
    Ma’at, die Göttin der Gerechtigkeit, antwortete sie.
    Ich meine, in Wirklichkeit.
    Ich bin eine Stimme, sagte sie, ein Wort. Ich bin ein Moment. Es spielt keine Rolle.
    Und plötzlich ging es ihm auf. Du bist die Frau aus dem Gefrierfach. Das Schneewittchen. Du hast schon einmal mit uns gesprochen. Du hast uns gesagt, wir sollten unsere Freunde bei Ilions Mauern finden.
    Sie sagte nichts, und jetzt war ihr Gesicht völlig in Schatten gehüllt.
    Aber warum hilft du uns nicht? Du mußt hier genauso gefangen sein wie wir! Wenn wir nicht um diesen Tempel herum und aus dieser Wüste fort kommen, werden wir sterben, und mit uns eine Menge anderer Leute. Und alle Kinder, die verlorenen Kinder!
    Sie war ein kleines Stück zurückgewichen, und als sie auf seine Bitte weiter schwieg, glaubte er sicher, sie verloren zu haben. Er konnte nur einen Umriß sehen, ein Loch im Nachthimmel, die Silhouette eines Engels.
    Bitte? Er streckte eine Hand aus. Bitte?
    Vergiß nicht, dies ist ein Traum, erklärte sie ihm, doch es hörte sich an, als wäre sie es, die halb im Schlaf lag.
    Ich weiß, daß du etwas tun kannst, sagte Orlando, und auf einmal kam es nicht mehr darauf an, ob dies ein Traum war oder nicht. Etwas Wichtiges war ihm greifbar nahe, vielleicht zum letztenmal, und er konnte es sich nicht leisten, die Chance ungenutzt vergehen zu lassen. Du weißt etwas. Hilf uns, hier rauszukommen.
    Es gibt Gleichgewichte, die du nicht verstehen kannst, wandte sie ein, und ihre Stimme war so schwach wie ein Windhauch, der nicht einmal den feinsten Pulversand bewegt. Dinge, die du nicht weißt …
    Bitte?
    Da neigte sie das Haupt und erhob eine Hand, die gespenstisch bleich von der Dunkelheit abstach. Durch die Handfläche hindurch konnte er einen Stern erkennen. Geh vorwärts, bis du mein Zeichen erblickst, flüsterte sie. Ich bete, daß ich das Richtige tue. Wir sind zu viele, und es gibt nicht einen bestimmten, der uns führt.
    Wovon sprichst du? Sie schien ihm helfen zu wollen, doch er verstand nicht, was sie sagte. Er fühlte die Gelegenheit entgleiten. Vorwärts wohin …?
    Geh in die Dunkelheit, sagte sie. Du wirst mein Zeichen sehen …
    Dann war sie verschwunden, und die große Pyramide verwehte wie Rauch, und zurück blieb nur der schwarze Himmel und ein einzelner heller Stern.
     
    Die Wange platt auf den Boden gedrückt und den Mund halb voll Sand schlug Orlando die Augen auf. Der Stern und seine blasseren Verwandten waren die einzigen Lichtquellen in der Nacht. Der Mond war schon lange untergegangen. Der Einfluß des Dings, das sich unmittelbar hinter der Düne befand, hatte nicht nachgelassen: Der Tempel war ein Strudel, und er hatte sie ergriffen. Ganz gleich, wohin sie sich wandten, sie konnten ihm nicht entkommen.
    Geh in die Dunkelheit …
    Aber sie konnte doch nicht gemeint haben …
    Geh in die Dunkelheit …
    Mit jagendem Herzen setzte Orlando sich auf. Wenn er zu lange darüber nachdachte, selbst inmitten dieses ganzen anderen Irrsinns – dieses virtuellen Universums, dieses imaginären Ägypten, dieses Tempels mit der schrecklichen Ausstrahlung eines heimlichen Vampirschlafplatzes –, würde er es nicht mehr glauben können. Sie war im Traum zu ihm gekommen. Sie hatte ihm gesagt, was er tun

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