Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer
nicht nur mit Sand nadelte und zu ersticken drohte, sondern auch genug Erdbewegungen durchführte, um ihnen zu zeigen, daß sie die Oase mit drei Kamelleichen geteilt hatten. Die Tiere erwiesen sich bei genauerem Hinsehen als reine Kamelhülsen, da Insekten und andere Aasfresser längst alles außer Knochen und Haut vertilgt hatten und die Wüstenluft letztere derart konserviert hatte, daß die Leichen immer noch mit dem ursprünglichen Inhalt ausgestopft zu sein schienen. Orlando fand den Anblick entsetzlich deprimierend und nötigte Fredericks, mit ihm den nächtlichen Marsch anzutreten, noch bevor die sinkende Sonne den westlichen Horizont erreicht hatte.
Das Wandern durch den Sand war mittlerweile zur geläufigen, aber nicht weniger beschwerlichen Routine geworden. Die Stunden schlichen träge dahin. Fredericks sang nicht mehr, nicht einmal, um Orlando zu ärgern.
Als es schon heiß zu werden begann, obwohl die Sonne noch gar nicht über die östlichen Berge gestiegen war, wußte Orlando, daß ihnen ein schlimmer Tag bevorstand. Weit und breit boten sich keine Unterschlupfmöglichkeiten, keine Bäume, keine brauchbaren Ruinen. Er und Fredericks beschlossen, sich einzugraben.
Sie scharrten sich dicht am Fluß eine Grube im feuchten Sand. Als sie knapp knietief gegraben hatten, befestigten sie die Wände des Loches, so gut es ging, mit kleinen Steinen, dann zog Fredericks seinen Umhang aus. Sie legten sich nebeneinander, spannten den Umhang über sich aus und warteten auf den Schlaf. Schon jetzt brannte die frühe Morgensonne auf den Stoff, und trotz der aus den Wänden sickernden Nässe vom Fluß erwärmte sich die Grube allmählich.
Fredericks schaffte es, rasch einzuschlafen, wie meistens. Orlando hatte weniger Glück. Schweiß triefte ihm in die Augen und sammelte sich auf seiner Brust. Der Schlaf wollte nicht kommen. Sein Gehirn konnte nicht loslassen.
Sie marschierten jetzt schon seit Tagen, aber er hatte keine Veränderung an den fernen Bergen bemerkt. Er fragte sich halb, ob er mit seinem Reden über zwanzigtausend Meilen Wüste eine Art Verwünschung ausgesprochen hatte. Vielleicht hatte das System ihn gehört und eine entsprechende Einstellung vorgenommen…
Fredericks wechselte die Lage, so daß jetzt Haut an schweißnasser Haut rieb. Orlando empfand die Gegenwart seines Freundes, der bis auf einen Lendenschurz nackt war, als beklemmend und irgendwie peinlich. Fredericks hatte den dünnen, männlichen Körper von Pithlit; seine Brust war zwar schmal, aber zweifellos die eines Mannes. Doch auch wenn die spärliche Bekleidung des Sims nichts darüber besagte, was der … was die wirkliche Fredericks anhatte, war es schwer zu vergessen, daß hier gewissermaßen Salome Fredericks, ein richtiges Mädchen, halbnackt neben ihm lag. Aber Fredericks empfand sich selbst als Junge, wenigstens online. Was also war dann Orlando in diesem Moment, wo er vor einem engeren Kontakt mit dem virtuellen Fleisch seines Freundes zurückscheute, weil er sich dabei unbehaglich fühlte – weil es ihn erregte? Hetero? Schwul?
Verzweifelt, sagte sich Orlando. Ich werde wahrscheinlich nie mit jemand schlafen, ob in der VR oder im RL, es sei denn, ich bezahle dafür. Und auch für dieses Projekt wird die Zeit langsam knapp.
Es gab einen bestimmten Heldentyp, für den Keuschheit eine Quelle großer Stärke war. Vor die Wahl gestellt, hätte Orlando niemals ein solcher Held sein mögen.
Er schlief den langen, heißen Tag über nicht gut. Die Grube war wie eine Sauna, er kam nicht zur Ruhe. Als sie bei Einbruch der Dunkelheit hinausstiegen, fühlte Orlando sich müde und zerschlagen. Auf der ersten Meile schon fragte er sich, ob er den nächtlichen Fußmarsch durchhalten würde.
Fredericks merkte, daß etwas nicht in Ordnung war, und obwohl Orlando mehrmals bissig Hilfe ablehnte, schlug er ein gemächliches Tempo an, mit dem sein Freund ohne allzu große Mühe mithalten konnte. Das ließ sich schwer verhehlen, und für Orlando war es beinahe schlimmer, als zurückzufallen.
Er war sich nicht ganz sicher, worin das Problem lag. Seine Gelenke schmerzten, aber das taten sie eigentlich immer. Ihm war heiß, aber nach den höllischen Nachmittagstemperaturen war die Abendluft immer noch warm genug, um beide Freunde beim Waten durch den weichen Sand zum Schwitzen zu bringen – also auch in der Beziehung nichts Neues. Das Schlimmste war, daß er anscheinend nicht genug Luft in die Lungen bekam. Er konnte so tief einatmen, wie er
Weitere Kostenlose Bücher