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Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer

Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer

Titel: Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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Kopf hängen, damit das Blut wieder einströmte. Als sein Blick klarer wurde, sah er, daß er auf der gerundeten Seite eines im Sand vergrabenen Gegenstands kniete, der kein Stein war.
    Es war, erkannte er langsam, ein Tongegenstand, dessen freigelegte Oberfläche backsteinhart war. Inmitten der abstrakten Diagonalen, die in den Ton geritzt waren, befand sich ein einzelnes Piktogramm, das von dem übrigen Muster durch seine rautenförmige Kontur abstach – eine Feder.
    Du wirst mein Zeichen sehen …
    Der Tempel zerrte abermals an ihm, aber zum erstenmal, seit sie ihren Schlafplatz verlassen hatten, kämpfte er dagegen an. Das Blut pulste und pochte in seinem Kopf, während er mit den Fingernägeln scharrte und das Tonding aus dem Sand zu buddeln versuchte. Mit hängendem Mund und fiebrigen Augen kam Fredericks zu ihm gekrochen.
    »Hilf mir«, keuchte Orlando. »Das ist es!«
    Fredericks hielt an, aber war zunächst außerstande, etwas zu tun. Orlando wühlte im Sand, aber konnte den Rand des Gegenstandes nicht finden. Er kratzte und schaufelte, aber es gab keinen Ansatz, um die Finger darunterzuschieben und ihn anzuheben.
    Fredericks tappte zu ihm und half mit. Bald darauf hatten sie ein großes Stück der gewölbten Oberfläche freigelegt, aber noch immer war kein Rand zu entdecken. Der unablässige Zug des Tempels, der inzwischen gewaltig wie ein Berg vor ihnen aufragte, wollte Orlando zwingen, auf dem Bauch zu kriechen, vorwärtszueilen, alles andere zu ignorieren …
    Er stöhnte auf. Tränen traten ihm in die Augen. »Es ist eine Urne oder sowas. Sie muß riesig sein!« Er wußte, daß sie der Kraft des Tempels niemals lange genug widerstehen konnten, um sie auszugraben. Die Frau mit der Feder hatte es versucht, aber er war nicht stark genug, um ihr Geschenk zu nutzen, was es auch sein mochte.
    Der Befehl weiterzugehen wurde laut und lauter in seinem Kopf.
    »Ich wollte helfen …«, murmelte er. »Ich wollte sie retten …«
    Fredericks war von seiner Seite verschwunden. Orlando spürte die Abwesenheit, und sein Herz wurde kälter. Er konnte seinen Freund nicht allein weitergehen lassen. Das Spiel war verloren.
    Er hob gerade rechtzeitig den Kopf, um zu sehen, wie Fredericks, der sich mit einer erstaunlichen Willensanstrengung hingestellt hatte, auf ihn zugewankt kam. Er hielt einen großen Stein mit beiden Händen umklammert, hob ihn vor dem fassungslos starrenden Orlando über den Kopf und warf ihn auf das Insigne der Göttin der Gerechtigkeit.
    Er hörte kein Krachen, als die Tonwand zerbarst, nur das Brausen und Brüllen in seinem Kopf. Einen Moment lang gafften Orlando und Fredericks beide auf das gezackte Loch, dann flackerte in der finsteren Tiefe etwas auf. Eine helle Wolke sauste aus der zerschmetterten Urne heraus und wirbelte wild um sie herum. Sie schoß in die Luft und kreiselte dabei so schnell, daß sie vor dem dunklen Himmel einen Moment lang unsichtbar wurde, dann stieß sie wieder herab und hüllte die beiden ein. Orlando hielt sich schützend die Hände vors Gesicht. Als er die Augen öffnete, hatte er ein winziges gelbes Äffchen am Finger hängen, das ihn neugierig beäugte. Ein weiteres Dutzend der kleinen Geschöpfe hatten sich auf seinen Armen und auf Fredericks niedergelassen.
    »He, Landogarner!« piepste das Ding an seinem Finger mit skurriler Heiterkeit in der Stimme. »Wo warstn du? Wieso haste die Böse Bande so lang da im Dunkeln gelassen?«
    Zwei weitere Mikroaffen flogen ihm vors Gesicht. »Bande sauer!« riefen sie. »Doof da drin, doof, doof!«
    »Aber jetzt«, verkündete der erste großspurig und so munter wie eine vor dem Höllentor tanzende Mücke, »jetzt wirds superduperlustig!«
    Wie bitte? Das soll unsere Rettung sein? dachte Orlando in hilfloser Verzweiflung. Mehr konnte sie nicht tun? Wut und Erschöpfung schlugen auf ihn ein wie mit Hämmern. Sein letztes bißchen Kraft war dahin, aber der Tempel übte immer noch seine unwiderstehliche Anziehung aus. Diesmal, begriff er, würde er willenlos Folge leisten.
    Vielleicht spürte das Äffchen an seinem Finger etwas, denn es schaute sich über die Schulter um. Als es die grinsende Steinfassade sah, kreischte es auf und schlug seine beiden winzigen Hände vors Gesicht.
    »Igitt!« rief es. »Hättste uns nich woanders hinbringen können? Das is gar nich lustig.«

 
Kapitel
     
Ein unfertiges Land
     
    NETFEED/NACHRICHTEN:
    Kultischer Massenselbstmord in Neuguinea
    (Bild: Personen mit Rauchvergiftung beim Abtransport

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