Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer
bemerkte, daß ihre Fingernägel eingerissen waren. Stirnrunzelnd wartete sie darauf, daß die Tür beschloß, ihr zu trauen. Zuviel Arbeit. Sie mußte gräßlich aussehen, aber im Moment war das Leben noch wilder und geiler als sonst.
Als ich das letzte Mal durch diese Tür ging, hatte ich noch niemanden umgebracht. Dieser Gedanke, oder andere dieser Art, schossen ihr seit Tagen immer wieder durch den Kopf. Sie war sich ziemlich sicher, daß sie es gut wegsteckte, aber sie hatte wenig Vergleichsmöglichkeiten. Immerhin verzehrte sie sich nicht vor Schuldgefühlen. Es wäre anders gewesen, vermutete sie, wenn das Opfer jemand gewesen wäre, den sie wirklich gekannt hatte, und nicht bloß ein kleiner kolumbianischer Gearspezialist, den Dread angeheuert hatte.
Außerdem hatte sie das schon seit Jahren kommen sehen. Man konnte in ihrer Branche nicht erfolgreich sein, ohne persönlich mit Gewalt in Berührung zu kommen, oder wenigstens konnte man sie nicht ewig vermeiden. Dennoch hatte sie angenommen, sie würde ihre erste Erfahrung mit Mord als Zuschauerin bei der Tat eines anderen machen, nicht selbst als Täterin. Sie schob den Gedanken wieder weg, doch die Erinnerung an Antonio Celestinos blicklose Augen, vor wie nach dem tödlichen Schuß, würde wahrscheinlich nicht so bald vergehen …
Die Wohnungstür sah anscheinend zwischen der neuen Dulcy, die Celestino erschossen hatte, und der alten von vorher keinen Unterschied und öffnete sich mit einem Zischen. Als sie den Strahl durchquert hatte, wartete die Tür genau anderthalb Sekunden, bevor sie zuging. Jones erschien in der Schlafzimmertür, rekelte sich wollüstig und tappte dann ohne erkennbare Hast auf sie zu, als ob ihr Frauchen nicht fast zwei Wochen weg gewesen wäre.
Dulcy setzte ihre Tasche ab und bückte sich, um die Katze zu streicheln, die ihr Schienbein anstupste und sich dann umdrehte und davonschlenderte. Jones’ flauschiges Hinterteil, persianerbreit, aber mit der siamesischen Färbung ihrer anderen Stammbaumhälfte, wies keinerlei Anzeichen unmodischer Verschmälerung auf. Wenigstens schien Charlie von unten sie ordentlich gefüttert zu haben.
Auf dem Wandbildschirm pulste ein schwaches rosiges Licht, aber Dulcy beachtete es nicht. Sie hatte keine Mitteilungen mehr abgerufen, seit sie in Cartagena ins Flugzeug gestiegen war, und sie hatte es damit weiterhin nicht eilig. Sie fühlte sich, als hätte sie sich schon seit Tagen nicht mehr richtig gewaschen, und ohnehin würde die Hektik schon früh genug wieder losgehen.
»Dringliche Mitteilung«, sagte eine sanfte Männerstimme, ausgelöst vom Öffnen und Schließen der Tür. »Es liegt eine dringliche Mitteilung vor.«
»Scheiße.« Dulcy warf sich die Haare aus den Augen und rieb sich die Stirn. Das konnte doch nicht schon wieder Dread sein, oder? Sie war sauer. »Spiel die Mitteilung ab.«
Das häßlich-attraktive Gesicht ihres derzeitigen Auftraggebers erschien einen Meter groß auf dem Wandbildschirm; seine langen Haare waren glatt und feucht. Er sah aus wie jemand, der Kat gekaut hatte, vor Erregung knisternd wie eine herunterbaumelnde Stromleitung. »Dulcy, ruf mich sofort an, sobald du nach Hause kommst. Es ist sehr, sehr dringend.«
»Lieber Himmel. Keinen Moment Frieden.« Sie wies den Bildschirm an, zurückzurufen, ließ sich auf die Couch fallen und schleuderte die Schuhe von sich.
Sein Bild erschien fast augenblicklich. »Wir haben ein Problem.«
»Laufen die Unterprogramme nicht richtig?« Bevor sie aus Kolumbien abgereist und Dread dort alleingeblieben war, um die Stellung zu halten, hatte sie ein paar Reaktionsschleifen zusammengebastelt, Verhaltensgear, das dem von ihnen okkupierten Sim den Anschein gab, von seinem rechtmäßigen Träger belebt zu sein, und es ihnen dadurch erlaubte, ihn kurzzeitig ohne Führung zu lassen. Einer genaueren Überprüfung hätte es zwar nicht standgehalten, aber in Schlafperioden und im Fall einer vorübergehenden Ablenkung auf ihrer Seite erfüllte es halbwegs seinen Zweck.
»Alles läuft prima. Aber die Gruppe ist getrennt worden. Die Afrikanerin und ihr Affenfreund sind verschollen, vielleicht ertrunken. Es gab eine Art Fischaufruhr im Fluß. Das Boot ist umgekippt, und der Rest der Gruppe ist am Ufer gestrandet.«
Dulcy holte tief Atem, um ihren Geduldsfaden zu stärken. Männer. Egal wie intelligent oder mächtig sie waren, manchmal mußten sie sich anscheinend wie Jungen benehmen, gingen völlig in ihren Spielen auf und vergaßen
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