Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer
Angriff auf unvorstellbare Mächte? Renie konnte nur Vermutungen anstellen. Aber jeden Augenblick, den Stephen weiter krank war und sie ihn nicht gesund machen konnte, empfand sie als brennende Anklage.
Der Schmerz rief eine weitere Erinnerung wach: Als er fünf oder sechs gewesen war, war er eines Nachmittags ganz aufgelöst heimgelaufen gekommen, mit rudernden Armen, als ob er fliegen wollte. Sein verstörter Blick aus weit aufgerissenen Augen hatte so übertrieben gewirkt, daß Renie wider Willen beinahe laut gelacht hätte, bis sie das Blut auf seiner Lippe und den Schmutz an seinen Sachen bemerkte. Ein paar der älteren Kinder hatten ihn auf dem Heimweg von der Schule abgefangen. Sie hatten ihn zwingen wollen, etwas zu sagen, was er nicht sagen wollte – eines der dämlichen Rituale gemeiner Größerer –, und ihn dann hingeschubst.
Ohne sich die Zeit zu nehmen, nach seiner aufgeplatzten Lippe zu sehen, war Renie aus dem Haus gestürmt. Die kleine Bande zehnjähriger Schläger war auseinandergelaufen, als sie sie kommen sahen, aber einer von ihnen war einen Schritt zu langsam gewesen. Vor Wut brüllend hatte Renie den Jungen geschüttelt, bis er heftiger geweint hatte als Stephen. Als sie ihn losließ, sackte er mit furchtbarer Angst im Blick zu Boden, und da durchzuckte sie ein tiefes Schamgefühl. Daß sie, eine erwachsene Frau und Studentin, einem Kind einen derartigen Schrecken einjagen konnte … Sie war entsetzt gewesen und hatte sich ihr Verhalten niemals ganz verziehen. (Stephen, der von der Haustür aus zugesehen hatte, war nicht von solchen Skrupeln geplagt. Er freute sich diebisch über die Bestrafung seines Peinigers und führte unter Lachen einen kleinen Tanz auf, als sie zum Haus zurückkehrte.)
Wie konnte jemand es fertigbringen, systematisch Kinder krank zu machen? Was konnte in den Augen dieser Gralsleute eine solche Ungeheuerlichkeit rechtfertigen? Es überstieg ihre Fassungskraft. Aber andererseits tat das in letzter Zeit vieles.
Ihre besinnliche Stimmung ging in Erbitterung über, und Renie setzte sich knurrend auf. !Xabbu gab einen leisen Ton von sich und rollte sich auf die andere Seite.
Was blieb ihr übrig, als weiterzukämpfen? Sie hatte Fehler gemacht, hatte Dinge getan, an die sie nicht gern zurückdachte, aber Stephen hatte sonst niemanden. Ein Leben, ein ganz, ganz wichtiges Leben, lag in ihren Händen. Wenn sie aufgab, würde sie ihn nie wieder in seiner lieben, flatterig-schlenkerigen Art herumrennen sehen, ihn nie wieder über die peinlich dummen Witze in den Netzshows glucksen hören oder irgendeine der Sachen machen sehen, die einfach unverwechselbar Stephen waren.
Vielleicht hatte der kleine zehnjährige Rabauke eine derart wütende Reaktion gar nicht verdient gehabt, aber immerhin hatte er Stephen nie wieder etwas getan. Irgend jemand mußte immer für die Schwachen und die Unschuldigen eintreten. Wenn sie nicht alles tat, was in ihrer Macht lag, würde sie den Rest ihres Lebens die Schattenlast des Versagens mit sich herumtragen müssen. Und dann würde Stephen, selbst wenn er starb, für sie immer in einem Zwischenzustand fortexistieren, als ein höchst reales Gespenst – das Gespenst einer vertanen Gelegenheit.
Kapitel
Sim-Salabim
NETFEED/NACHRICHTEN:
Mini-Elefanten nicht bloß eine flüchtige Mode
(Bild: Cannon mit ihrem kleinen Elefanten »Jimson«)
Off-Stimme: Auf der Good Things Farm laufen die Geschäfte zur Zeit dem Namen entsprechend gut. Die Besitzerin Gloriana Cannon, hier mit ihrem jungen Bullen Jimson, züchtet und verkauft jedes Jahr fast hundert Mini-Elefanten, mitunter auch liebevoll als »Eleputaner« bezeichnet. Der Erfolg der Farm, die vor zehn Jahren als einer von vielen modischen Zuchtbetrieben für Minitiere anfing, hat die kühnsten Erwartungen der Experten übertroffen.
Cannon: »Zum Teil liegt es daran, daß diese kleinen Kerle so schlau sind. Sie sind nicht bloß was Neues, sie sind echte Gefährten. Aber sie sind außerdem viel robuster als einige der anderen gentechnisch erzeugten Minis — ihre DNS kommt einfach besser damit klar oder so. Laß das, Jimson. Wenn man mal zurückdenkt, wie unberechenbar die kleinen Grizzlys damals waren, die ganzen Unfälle, die passierten. Und diese kleinen Dschungelkatzen, die sich als so angriffslustig herausstellten … wie war nochmal dieser doofe Marketingname? ’Tigrettes’ oder ’Tigritos’ oder sowas in der Art …?«
> Dulcinea Anwin legte ihre Hand auf den Leser und
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