Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer
Augen über Jeremiahs Schulter. »Mit den Funktionen is alles okay.«
Jeremiah Dako legte sein Buch hin. »Funktionen?«
»Na, diese dings – Lebensfunktionen. Immer gleich. Herz manchmal schnell, dann wieder langsam, aber sonst alles gleich. Wenn ich noch weiter hinguck, dreh ich durch.«
Obwohl er gerade sechs Stunden Wache hinter sich hatte, folgte Long Joseph Sulaweyo Jeremiah zurück ins Labor. Während Jeremiah sich vergewisserte, daß sämtliche Anzeigen – für Körpertemperatur, Atemtätigkeit, Filter, Flüssigkeitszufuhr und Ernährung – so waren, wie Long Joseph gesagt hatte, tigerte Renies Vater auf der Galerie hin und her und blickte auf die stillen V-Tanks hinab. Trockene Echos von seinen Schritten wischten durch den höhlenartigen Raum.
Als Long Joseph etwa zum fünfzehnten Mal vor ihm vorbeischlurfte, nahm Jeremiah das Headset ab und knallte es auf die Konsole. »Herrgott, Mann, kannst du das nicht woanders machen? Es ist schlimm genug, daß ich mir dein Tapp, Tapp, Tapp die ganze Nacht anhören muß, aber nicht hier auch noch. Glaub mir, niemand wünschte sich mehr als ich, daß es hier für dich was zu trinken gäbe.«
Long Joseph drehte sich um, aber langsamer als sonst. Sein Grollen war nur ein Schatten früherer Tage. »Was is, guckst du zu, wie ich schlafe? Schleichst mir nachts hinterher? Ich sag dir, wenn du ankommst und willst mit mir Faxen machen, dann knallt’s. Da kannste dich drauf verlassen.«
Jeremiah mußte wider Willen grinsen. »Wieso meinen Leute wie du eigentlich immer, jeder Homo, den ihr trefft, wäre ganz wild darauf, mit euch ins Bett zu steigen? Glaub mir, alter Mann, du bist nicht mein Typ.«
Der andere blickte finster. »Na, Pech für dich, kann ich nur sagen, ich bin nämlich der einzige hier.«
Jeremiah lachte. »Ich verspreche dir, sobald ich anfange, dich schön zu finden, sag ich Bescheid.«
»Was denn, stimmt was nich mit mir?« Er wirkte ehrlich beleidigt. »Stehst du auf so kleine Softies? So Hübschbubis?«
»Oh, Joseph …« Jeremiah schüttelte den Kopf. »Geh und tu was. Lies ein Buch. Die Auswahl ist nicht besonders, aber ein paar interessante sind drunter.«
»Bücher lesen? Das is wie Mielie Pap essen – fängt schlecht an und wird nich besser.« Joseph holte tief Luft und ließ sie langsam wieder entweichen, erschlagen beim bloßen Gedanken an Literatur. »Gott sei Dank gibt’s das Netz, kann ich nur sagen. Wenn wir kein Netz hätten, müßt ich mich gleich umbringen.«
»Du solltest nicht soviel gucken. Wir sollen nicht mehr Strom verbrauchen als unbedingt nötig – diese Martine meinte, es bliebe eher unbemerkt, daß wir illegal Strom abzapfen, wenn wir uns auf ein Minimum beschränken.«
»Was soll’n das heißen?« Long Joseph hatte wieder seinen knurrigen Ton gefunden. »Wir haben diese … diese großen Tankdinger da laufen«, er deutete fuchtelnd auf die verkabelten Sarkophage, »und den ganzen andern Quatsch hier«, seine zornige Handbewegung begriff die Computer, die Lichter und Jeremiah selbst ein, »und du stellst dich an, weil ich mir’n paar Tropfen fürs Netz abquetsche?«
»Wahrscheinlich hast du recht.« Jeremiah griff wieder nach den Kopfhörern. »Also geh und guck dir was an, und laß mich meine Tests machen.«
Eine Minute später fiel Long Josephs hagerer Schatten abermals auf ihn. Jeremiah wartete, daß der andere Mann etwas sagte. Als nichts kam, nahm er die Kopfhörer ab; sie hatten Renie oder !Xabbu sowieso schon seit Tagen nicht mehr sprechen gehört. »Ja? Willst du vielleicht doch eine Lektüreempfehlung haben?«
Long Joseph verzog das Gesicht. »Nein.« Er richtete den Blick nicht auf seinen Gefährten, sondern auf alles andere, als ob er etwas verfolgte, das sowohl fliegen konnte als auch so ziellos herumschweifte wie ein Goldfisch.
»Also, was gibt’s?«
»Weiß nich.« Long Joseph lehnte sich an das Geländer und starrte weiter in die vierstöckige Höhe über ihm hinauf. Als er wieder sprach, klang seine Stimme leicht schrill. »Ich bin bloß … ich weiß nich, Mann. Ich glaube, ich bin am Durchdrehn.«
Jeremiah legte langsam die Kopfhörer hin. »Was meinst du damit?«
»Es is … ich weiß nich. Ständig muß ich an Renie denken, an meinen Jungen, Stephen. Und daß ich einfach nix tun kann. Bloß warten, warten, während dieser ganze Blödsinn hier läuft.«
»Es ist kein Blödsinn. Deine Tochter versucht, ihrem Bruder zu helfen. Jemand hat meine Doktor Van Bleeck wegen dieser Geschichte
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