Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer
umgebracht. Es ist kein Blödsinn.«
»Werd nich gleich sauer. Ich wollt nich …« Long Joseph drehte sich um und sah Jeremiah zum erstenmal an. Seine Augen waren rotgerändert. »Aber ich, ich mach gar nix. Sitz bloß den ganzen Tag hier rum, einen Tag nach dem andern. Keine Sonne, keine Luft.« Er legte die Finger um seinen Hals. »Kann kaum atmen. Und was is, wenn mein Stephen mich braucht? Hier kann ich ihm doch nix nützen.«
Jeremiah seufzte. Es war nicht zum erstenmal, daß das passierte, doch Long Joseph hörte sich bedrückter an als sonst. »Du weißt, daß es das Beste ist, was du für Renie und für Stephen tun kannst. Meinst du, ich mach mir keine Sorgen? Meine Mutter weiß nicht, wo ich bin, ich hab sie seit zwei Wochen nicht besucht. Ich bin ihr einziges Kind. Aber wir müssen das hier tun, Joseph.«
Long Joseph wandte sich wieder ab. »Ich träum von ihm, weißte. Ganz komische Träume. Seh ihn, wie er im Wasser ertrinkt, krieg ihn nich zu fassen. Seh ihn, wie er mit einem von den Aufzügen hier wegfährt, nach oben, seh nich mal sein Gesicht, aber ich fahr nach unten, und ich kann nich hinter ihm her, weil zu viele Leute da sind.« Seine breiten Hände spreizten sich und packten das Geländer. Die Knöchel standen hoch wie kleine Berge. »Er ist immer dabei zu verschwinden. Ich glaub, er stirbt.«
Jeremiah wußte nicht, was er sagen sollte.
Long Joseph zog die Nase hoch, dann straffte er sich. »Ich wollte nur was trinken, damit ich nich ständig so verdammt viel denken muß – an ihn, an seine Mutter, wie sie ganz verbrannt war und geweint hat, aber ihr Mund ging nich richtig, deshalb hatse nur so leise hu, hu gemacht, hu, hu …« Er rieb sich grimmig ein Auge. »Ich will einfach nich mehr dran denken. Bloß nich dran denken. Deshalb wollt ich was zu trinken haben. Weil’s besser is, als mich umzubringen.«
Jeremiah blickte angestrengt die Anzeigen auf der Konsole vor sich an, als wäre es mit einem allzu großen Risiko verbunden, aufzuschauen und den Blick auf den anderen Mann zu richten. Zuletzt drehte Long Joseph sich um und ging fort. Jeremiah lauschte, wie sich seine Schritte auf der Galerie entfernten, langsam wie die Stundenschläge einer altmodischen Uhr, gefolgt vom Aufzischen und dumpfen Schließen der Fahrstuhltür.
> »Es kommen Leute, Renie.« !Xabbu berührte ihre Hand. »Nicht nur ein paar. Die Stimmen, die ich höre, sind von Frauen.«
Renie verharrte atemlos auf der Stelle, doch das einzige Geräusch in ihren Ohrenstöpseln war das Rauschen des Windes in den umgeknickten Maisstengeln. Cullen blieb stolpernd neben ihr stehen, willenlos wie ein elektronisches Spielzeug ohne Kontakt zu seinem Steuerungssignal.
»Wir haben keine Ahnung, wer sie sind«, sagte sie flüsternd, »oder wo wir gelandet sind, außer daß das hier die Vereinigten Staaten in irgendeiner imaginären Version darstellen soll.« Sie fragte sich, ob es sie vielleicht wieder in das andere Amerika der Atascos verschlagen hatte. Wäre das schlecht oder gut? Sie kannten das Terrain bereits, was ein eindeutiger Vorteil wäre, aber die Gralsbruderschaft würde es auf der Suche nach den Leuten, die aus Temilún geflohen waren, bis in den hintersten virtuellen Winkel durchstöbern.
Auf einmal hörte sie, was !Xabbu fast eine Minute vorher schon bemerkt hatte – näher kommende Stimmen und das Geräusch vieler Füße, die über das verwüstete Maisfeld stapften.
»Runter«, wisperte sie und zog Cullen erst zwischen den schützenden Stengeln auf die Knie und dann mit !Xabbus Hilfe vorsichtig auf den Bauch. Sie hoffte, daß der verwundete Entomologe noch genügend bei Sinnen war, um sich ruhig zu verhalten.
Die Geräusche kamen näher. Eine recht ansehnliche Schar zog an ihnen vorbei, möglicherweise unterwegs zu dem demolierten Zaun.
Renie lauschte angestrengt, um etwas von ihrer Unterhaltung mitzubekommen, aber erhaschte nur ein paar zusammenhanglose Gesprächsfetzen, bei denen es anscheinend um den Wohlgeschmack von Karamelpudding ging. Außerdem hörte sie mehrere Bemerkungen über jemanden namens Emily.
Neben ihr, in den Blättern an ihrem Kopf, gab es ein kaum hörbares Rascheln. Als sie sich umblickte, war !Xabbu verschwunden. Furchterfüllt konnte sie nur so still wie möglich liegenbleiben, während die unsichtbare Gruppe in wenigen Metern Abstand vorbeimarschierte. Ihre Hand lag auf Cullens Rücken, und eine ganze Weile merkte sie nicht, daß sie im Kreis darauf herumrieb, genauso wie sie es
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