Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer
hieß, soweit Renie verstehen konnte, »Smaakt« – ein Name, der ihr nichts sagte und den sie weder mit den Vereinigten Staaten im allgemeinen zusammenbringen konnte noch mit Kansas im besonderen, einem Staat, von dem sie nur wußte, daß er zum landwirtschaftlichen Hauptanbaugebiet Nordamerikas gehörte.
Smaakt, oder wie der Name sonst lauten mochte, war eigentümlich menschenleer. Keine von Emilys Arbeitskolleginnen war zu erblicken, keine Wachen patrouillierten zwischen den herumstehenden Traktoren und den wahllos aufgetürmten Stapeln leerer Kisten. Ungehindert traten Renie und die anderen in den Schein der orangegelben Lampen, die an Kabeln um jeden Mast geschlungen und über den großen Hof gespannt waren, bis Emily vor einer Scheune stehenblieb, einem Riesenbau, der sogar Renies vorübergehendes Asyl, die überdimensionale Durbaner Notunterkunft, winzig erscheinen ließ. Sie sah aus wie ein Hangar für Jetliner, umweht von Getreidestaubschwaden. »Hier drin gibt’s einen Platz, wo ihr schlafen könnt.« Emily wies auf eine eiserne Leiter, die an einer Außenwand hing. »Dort oben, auf dem Heuboden. Da kommt nie einer gucken.«
!Xabbu schwang sich die Leiter hinauf, hüpfte kurz zu dem offenen Fenster erst hinein, dann hinaus und kletterte hurtig wieder hinab. »Er steht voller Geräte«, sagte er. »Als Versteck müßte er sich gut eignen.«
Mit Emilys Hilfe schoben sie den in sich zusammengesunkenen Cullen die Sprossen hoch. Nachdem sie ihn durch das breite Ladefenster manövriert hatten, sagte Emily: »Ich muß jetzt gehen. Wir dürfen morgen ein bißchen extra schlafen, wegen dem Zaun. Wenn ich kann, komme ich in der Früh bei euch vorbei. Gutnacht, ihr Fremden!«
Renie sah die geschmeidige Gestalt flink die Sprossen hinuntersteigen und hinter einer der langen, niedrigen Baracken im Schatten verschwinden. Eine Seitentür ging auf, und Emily huschte hinein. Einen Moment später erschien eine sonderbare rundliche Gestalt am anderen Ende der Baracke. Renie tauchte in die Fensterleibung zurück, wo das Mondlicht nicht auf sie fiel, und beobachtete, wie die Gestalt vorbeiwackelte. Sie gab ein leises Surren von sich, aber Renie konnte wenig mehr von ihr erkennen als blaß schimmernde Augen, bevor sie um die Ecke der Baracke bog und fort war.
Der Heuboden selbst erstreckte sich zwar lediglich über die Breite und nicht über die ganze Länge der Scheune, aber war dennoch länger als die Straße, in der Renie in Pinetown wohnte, und enthielt jede Menge geeigneter Schlafplätze. Sie ließen sich in einer geschützten Nische in der Nähe des Fensters und der Leiter nieder. !Xabbu fand lange Jutesäcke, die mit schweren Schürzen gefüllt waren; hinter einem Stapel unbeschrifteter Kisten ausgelegt, die eine Barriere zwischen ihrem Ruheplatz und dem Fenster bildeten, gaben ein paar von diesen Säcken ein gutes Lager für Cullen ab; die Augen des jungen Insektenforschers waren bereits zugefallen, als sie ihn darauf betteten. Sie breiteten noch mehr Säcke aus und machten es sich so gemütlich, wie es ging. Renie hätte gern noch mit !Xabbu über die Ereignisse des Tages nachgegrübelt, aber der Schlaf zerrte mit Macht an ihr, und sie überließ sich ihm.
Emily kam wie versprochen, und zwar früher am Morgen, als Renie lieb war. Während sie dasaß und dem Geplapper der jungen Frau zuhörte, glaubte Renie zu verstehen, was die Leute meinten, wenn sie davon sprachen, ihre Seele verkaufen zu wollen: Sie hätte den besagten Handelsartikel auf der Stelle für eine anständige Tasse Kaffee und ein, zwei Zigaretten weggegeben.
Ich hätte Jeremiah anweisen sollen, in regelmäßigen Abständen Koffein in den Tropf zu geben, dachte sie säuerlich. Na ja, das nächste Mal…
Die zweifelhafte Flüssigkeit, von der Emily eine Tasse aus der Kantine der Arbeiterinnen herausgeschmuggelt hatte – »Leckerfrühstückstrank« sagte sie dazu, anscheinend ein einziges Wort –, war jedenfalls eindeutig kein Kaffee. Sie hatte einen merkwürdigen chemischen Geschmack wie ungesüßter Hustensaft, und selbst von dem kleinen Schluck, den Renie nahm, bevor sie sie rasch zurückgab, bekam sie Herzflattern. Sie mußte sich daran erinnern, daß das Mädchen ihnen eine Freude hatte machen wollen.
Nachdem Emily ihnen atemlos ihre Entdeckung und Rettung am Abend zuvor haarklein geschildert hatte, mit einer unschuldigen Begeisterung, als ob Renie und !Xabbu nicht selbst dabeigewesen wären, erzählte sie ihnen, sie werde heute früher
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