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Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer

Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer

Titel: Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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von der Arbeit kommen, weil sie zu den »Medizinhenrys« müsse – zu einer Routineuntersuchung, die sich nach ihrer kurzen Beschreibung eher wie Veterinärmedizin anhörte als wie die Art von Arztbesuch, die Renie gewöhnt war –, und wolle danach versuchen, heimlich bei ihnen vorbeizuschauen. Draußen dröhnten inzwischen kratzende, leiernde Aufnahmen von »Lustigmusik«, wie Emily dazu sagte, aus den auf dem Gelände verteilten Lautsprechern. Schon jetzt entnervt bei dem Gedanken, einen ganzen Tag bei diesem Radau auf dem Heuboden festzusitzen, stellte Renie dem Mädchen Fragen über diesen Ort, an den der Fluß sie befördert hatte, aber Emilys Wortschatz war ebenso beschränkt wie ihre Auffassungsgabe. Renie bekam wenig neue Informationen zu hören.
    »Wir wissen nicht mal, ob Orlando und die andern durchgekommen sind«, sagte sie mürrisch, nachdem die junge Frau gegangen war. »Wir wissen gar nichts. Wir fliegen einfach blind.« Das letzte Wort rief ihr Martine in Erinnerung und löste in ihr ein so heftiges und überraschendes Bedauern darüber aus, den Kontakt zu ihr verloren zu haben – schließlich kannte sie diese Französin kaum –, daß sie den Anfang von !Xabbus Entgegnung nicht mitbekam.
    »… nach diesem Jonas suchen. Und wir müssen glauben, daß Sellars uns wiederfinden wird. Er ist zweifellos hochintelligent.«
    »Zweifellos. Aber worauf hat er es eigentlich abgesehen? Ihm scheint keine Mühe zuviel zu sein, nur um die Welt zu retten.«
    !Xabbu runzelte einen Moment verwirrt die Stirn, bevor er die grimmige Ironie in ihren Worten erkannte. Er lächelte. »Würden alle Stadtmenschen das so sehen, Renie? Daß niemand etwas tun würde, ohne selbst davon zu profitieren?«
    »Nein, natürlich nicht. Aber diese ganze Sache ist so merkwürdig, so kompliziert. Ich glaube schlicht nicht, daß wir es uns leisten können, bei irgend jemand sonnenklare Motive vorauszusetzen.«
    »Richtig. Und vielleicht hat die Gralsbruderschaft jemandem, der Sellars nahesteht, etwas angetan. Niemand von denen, die mit uns aufgebrochen sind, hat alle Gründe offengelegt, weshalb er oder sie hier ist.«
    »Außer dir und mir.« Sie holte tief Luft. »Das heißt, bei dir weiß ich es im Grunde auch nicht so genau. Ich bin wegen meinem Bruder hier. Aber du hast ihn eigentlich nie richtig kennengerlernt.« Sie merkte, daß es klang, als zweifelte sie an seinen Motiven. »Du hast viel mehr getan, als man von einem Freund verlangen kann, !Xabbu . Und ich bin dir dankbar. Tut mir leid, daß ich heute morgen so schlecht gelaunt bin.«
    Er zuckte leicht mit den Achseln. »Auch Freundschaft ist nicht unantastbar, nehme ich an.«
    Einen Moment herrschte Schweigen. Schließlich wandte !Xabbu sich ab, um nach Cullen zu sehen, der noch keinerlei Anstalten gemacht hatte aufzuwachen. Renie trat ans Fenster, um allein mit ihren Dämonen zu ringen.
    Als sie sich mehrere der umstehenden Kisten so hingestellt hatte, daß sie hinausschauen konnte, ohne befürchten zu müssen, selber gleich gesehen zu werden, setzte sie sich hin, das Kinn auf die Fäuste gestützt. Auf dem weiten Gelände unter ihr hatte der normale Arbeitsalltag begonnen. Die Lustigmusik dudelte dermaßen falsch vor sich hin, daß es schwer war, klar zu denken; Renie fragte sich, ob das wohl beabsichtigt war. Männer waren keine zu sehen, nur Herden dahinschlurfender Frauen, alle in nahezu identischen Kitteln, die in regelmäßigen Abständen von je einem der sonderbaren mechanischen Männer hierhin und dorthin über die freie Fläche geführt wurden. !Xabbu hatte richtig gesehen – sie ähnelten keinem der Roboter, die Renie jemals im Netz gesehen hatte, weder den Industrieautomaten der wirklichen Welt noch den chromglänzenden Menschenimitaten, die in Science-Fiction-Filmen agierten. Diese hier sahen eher aus, als wären sie zwei Jahrhunderte zu spät gekommen, pummelige metallene Stehaufmännchen mit Aufziehschlüsseln im Rücken und verwegenen Blechschnurrbärten, die ihnen fest in die ständig verdutzt blickenden infantilen Gesichter genietet waren.
    Das Geschehen dort unten verlor bald den Reiz des Neuen. Die dicke weiße Sonne stieg höher. Auf dem Heuboden begann es unangenehm warm zu werden, und die Luft draußen wurde ganz schleierig und brach das Licht wie Wasser. Von einem Schimmer umgeben, der jetzt von der sengenden Sonne kam, lag in der Ferne die Stadt, deren Lichter sie am Abend zuvor gesehen hatten. Einzelheiten waren schwer zu erkennen, aber sie wirkte

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