Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas
wie die Korridorstraßen davor. Aber das eigentlich Imposante waren die Bücherregale.
Regale säumten die Bibliothek vom Fußboden bis hinauf zur Decke, Dutzende und Aberdutzende von Regalen, die immer höher und höher stiegen, bis es, wie in einer Perspektivübung im Kunstunterricht, von einem zum anderen keinen Zwischenraum mehr zu geben schien. Allesamt waren sie von vorn bis hinten mit Büchern vollgestopft, so daß die Wände der riesigen Halle abstrakte Mosaike aus bunten Lederbuchrücken geworden waren. An manchen Stellen führten halsbrecherisch lange Leitern viele Meter weit die senkrechten Büchersteilwände hinauf; kleinere Versionen hingen zwischen einer Reihe höherer Regale und einer anderen, vielleicht um Gelehrten oder Bibliothekaren, die häufig zwischen denselben Plätzen hin- und herwandern mußten, den Weg zu erleichtern. Aber zu anderen Stellen in den ungeheuren Regalen schien man nur über erschreckend notdürftige Seilbrücken zu kommen, ein langes, durchhängendes Seil für die Füße, das andere brusthoch, beide an Plattformen in den Ecken des Raumes verankert. Auch sonst taten Seile nützliche Dienste: Vom Fußboden bis zu einer Höhe von vielleicht zwei Stockwerken schützten aus Seide geknüpfte Netze die Regale vor Diebstahl und Vandalismus, so daß man die Bücher zwar sehen, aber nicht anfassen und herausnehmen konnte. Überall auf den steilen Regalen krabbelten Leute in grauen Kutten herum – die für die Bibliothek zuständigen Mönche, von denen Zekiel gesprochen hatte. Still und fleißig wie Bienen in einer Honigwabe flickten diese dunkel gewandeten Gestalten das Buchnetz, wenn irgendwo eine Schnur durchgescheuert oder ein Knoten aufgegangen war, oder bewegten sich vorsichtig auf den oberen Galerien. Mindestens zwei Dutzend standen an verschiedenen Stellen auf Leitern und betätigten langstielige Staubwedel. Die Mönche und die Menge der Marktbesucher schienen sich gegenseitig kaum zur Kenntnis zu nehmen.
»Wahnsinn«, sagte Florimel. »Nicht auszudenken, wie viele Bücher das sein müssen.«
»Ich glaube sieben Millionen dreihundertviertausendunddreiundneunzig nach der jüngsten Zählung«, sagte eine unbekannte Stimme.
»Doch die meisten lagern in den unteren Katakomben. Ich bezweifle, daß sich ein Fünftel davon in diesem Raum befindet.«
Der lächelnde Mann, der neben ihnen stand, war jung, rundlich und kahlköpfig. Als er mit liebevollem Blick zu den Regalen aufschaute, sah Renie, daß seine Haare bis auf ein einzelnes breites Büschel am Hinterkopf abrasiert waren. Seine graue Kutte und seine kuriose Frisur ließen wenig Zweifel an seinem Stand.
»Bist du einer der Mönche?« fragte Renie.
»Bruder Epistulus Tertius«, antwortete er. »Ist dies das erste Mal, daß ihr auf den Markt kommt?«
»Ja.«
Er nickte und musterte sie gründlich, aber Renie konnte weder Berechnung noch Mißtrauen in seinem offenen, rötlichen Gesicht entdecken. »Darf ich euch etwas über die Geschichte unserer Bibliothek erzählen? Ich muß gestehen, daß ich sehr stolz darauf bin – ich kann es immer noch nicht ganz fassen, daß das Schicksal einen Jungen wie mich, einen von den Brennholzsammlern, an so einen wunderbaren Ort geführt hat.« Er erspähte !Xabbu und blickte plötzlich besorgt. »Oder halte ich euch von euren Marktgeschäften ab?«
Renie überlegte, ob er der Meinung war, daß sie einen Käufer für den Pavian suchten. Sie betrachtete den Mönch eingehend, versuchte zu erkennen, ob sich vielleicht das Gesicht des Monstrums, das sich als Quan Li ausgegeben hatte, hinter dem gütigen Äußeren versteckte, aber sie wußte nicht, aus welchem Grund ihr Feind sein Aussehen hätte ändern sollen, falls er hier geblieben war, und konnte auch keinen Hinweis darauf entdecken, daß dieser Mann jemand anders war, als er vorgab. Ein freundlicher Ortskundiger war mit Sicherheit das Beste, was einem in der Fremde begegnen konnte. »Das ist sehr nett von dir«, sagte sie. »Wir würden furchtbar gern mehr erfahren.«
»… Und hier befinden sich die allergrößten Schätze«, erklärte Bruder Epistulus Tertius mit Ehrfurcht in der Stimme. »Dies sind die Bücher, die unser Orden übersetzt hat. Die Weisheit der Alten!«
Angesichts der Hunderttausende von Büchern über ihnen, die von Unmengen grauer Brüder eifrig umsorgt wurden, hörte sich das wie die Pointe eines Witzes an. Der kristallene Reliquienschrein auf dem Tisch vor ihnen enthielt knapp zwei Dutzend Bände. Einer war
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