Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas
aussehender Mann Ende dreißig mit einem dramatischen Haarschnitt heraus, wie er zehn Jahre früher modern gewesen war. Calliope konnte ihn sich gut vorstellen, wie er in einer Revivalband spielte und seine Arbeit in der Klinik als seinen »Geldjob« bezeichnete. In der beklemmenden Gegenwart der Direktorin brachte er kaum die Zähne auseinander, bis es Calliope gelang, Doktor Hazen klarzumachen, daß sie gern allein mit ihm gesprochen hätte.
In einem freien Büro taute Sandifer auf. »Arbeitet ihr an ’nem Fall?«
»Nicht doch.« Calliope hatte das Feverbrook Hospital langsam satt.
»Wir fahren bloß in der Gegend rum und reden mit Leuten, weil es uns im Polizeirevier zu langweilig ist. Kanntest du einen Patienten, der vor ungefähr fünf Jahren hier war und der John Wulgaru hieß?«
Sandifer schob nachdenklich die Unterlippe vor und schüttelte dann den Kopf.
»Johnny Dark?« schaltete Stan sich ein. »John Dread?«
»Johnny Dread!« Sandifer lachte schallend. »Yeah, klar erinnere ich mich an Johnny-Boy.«
»Was kannst du uns über ihn erzählen?«
Sandifer lehnte sich gemütlich zurück. »Nicht viel mehr, als daß ich froh bin, ihm niemals draußen begegnet zu sein. Das war ein hundertprozentiger Psycho, da kannste Gift drauf nehmen.«
»Wie kommst du darauf?«
»Seine Augen zum Beispiel. Weißt du, wie Fischaugen aussehen? Daß man nicht mal sagen kann, ob sie lebendig sind oder nicht, solange sie sich nicht bewegen? Genauso war Johnny-Boy. Der härteste kleine Kotzbrocken, den ich je gesehen hab, und ein paar von den Kids, die hier durchkommen, sind verdammt harte Brocken, da kannste Gift drauf nehmen.«
Calliope merkte, wie ihr Puls sich beschleunigte, und konnte sich kaum bezähmen, ihrem Kollegen einen Blick zuzuwerfen. »Hast du eine Ahnung, was aus ihm wurde, nachdem er hier rauskam? Oder hast du vielleicht sogar eine Ahnung, wo er sich gegenwärtig aufhält?«
»Nö, aber das dürfte nicht allzu schwer rauszukriegen sein.«
»Wieso?«
Sandifer blickte von ihr zu Stan und wieder zurück, wie um sich darüber klarzuwerden, ob er irgendwie hereingelegt werden sollte. »Weil er tot ist, Lady. Er ist tot.«
> Die Stimmen in ihrem Kopf schwiegen jetzt, aber so sehr sie sich anstrengte, Olga konnte sich nicht weismachen, daß alles wieder normal war. Es ist, als wäre ich in einer andern Welt gewesen, dachte sie. Nichts in meinem Leben wird je wieder so sein wie zuvor.
Die wirkliche Welt sah natürlich mehr oder weniger wie immer aus, und die Firmenzentrale, ein Gebäude, in dem sie viele Male zu Gehaltsverhandlungen und Betriebsfesten gewesen war, machte da keine Ausnahme. Es hatte dieselben hohen Decken wie immer, dieselben geschäftig wie Kirchendiener in einem großen Dom herumhuschenden Angestellten und hier im Eckbüro dieses Managers dasselbe Gesicht auf dem Wandbildschirm, mit dem und hinter dem sie so viele Jahre lang gelebt hatte.
Der Ton war abgestellt, aber die riesige Bildwand hinter dem Schreibtisch war ganz von dem wirbelnden Tanz Onkel Jingles ausgefüllt, der mit wehenden Beutelhosen so schnell und schwungvoll seine Runden drehte, daß selbst die auf Schwarmbewegungen programmierten Vögel Mühe hatten mitzuhalten. Obwohl sie ihre alte Identität weitgehend abgelegt hatte, konnte Olga Pirofsky nicht anders, als die gewandten Bewegungen der Figur zu registrieren. Die Neue führte ihn gerade, die in Mexiko – oder war es New Mexico? Egal, wo sie saß, sie war gut. Roland hatte recht gehabt.
Ich werde nie mehr die Neue sein, nirgends, nie wieder, dachte Olga, und obwohl das keine sehr überraschende Erkenntnis war – schließlich war sie in einem Alter, in dem jede wenigstens angefangen hätte, an den Ruhestand zu denken –, versetzte es ihr doch einen Stich. Es kam ihr beinahe so vor, als sollte sie ignorieren, was in der Nacht geschehen war, und die Stimmen vergessen, die zu ihr gekommen waren und alles verändert hatten. Sie fühlte, wie sehr es ihr um die Kinder leid tat, die sie so viele Jahre lang unterhalten hatte, und wie sehr sie ihr fehlen würden. Aber die Kinder, auf die es jetzt am meisten ankam, waren in ihr, und wenn ihre Stimmen im Augenblick auch verstummt waren, konnte sie doch nicht so tun, als hätte es sie nie gegeben. Alles war anders geworden. Von außen mochte es wie ein ganz normaler Tag aussehen, an dem Onkel Jingle seine immergleichen Kreise drehte und hundert Mitarbeiter hinter den Kulissen ihr Teil dazu beitrugen, aber Olga wußte, daß
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