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Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas

Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas

Titel: Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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die Vorboten dieser Erfahrung gewesen waren, dann versöhnte sie das jetzt wenigstens ein bißchen mit ihnen. Vielleicht mußte es stets von Schmerzen begleitet sein, wenn man an etwas rührte, das viel größer war als das normale Leben.
    Angerührt, hatte sie gedacht, während die Tasse mit Tee in ihren Händen kalt wurde. Das ist es. Ich habe etwas angerührt. Ich bin angerührt worden. Und genau wie die alten Propheten zu ihrer Zeit weltliche Dinge und vor allem weltliche Zerstreuungen hinter sich gelassen hatten, so mußte auch Olga, wie sie an diesem grauen Morgen begriff, sich der Erfahrung hingeben. Konnte sie ihre alte Arbeit wiederaufnehmen und den Kindern in Onkel Jingles Publikum Spielzeug und Anziehsachen verkaufen und Frühstücksflocken, die schrien, wenn man sie schluckte? Nein. Es war an der Zeit, etwas zu verändern, hatte sie entschieden. Dann wollte sie wieder den Stimmen lauschen, herausfinden, was die Kinder von ihr wollten.
     
    Sie mußte einen Anruf machen, aber Olga graute viel mehr davor, als ihr vor dem Gedanken zu kündigen gegraut hatte.
    Sobald sie nach Hause gekommen war und Mischa sein Futter hingestellt hatte, ging sie ins Wohnzimmer und schloß hinter sich die Tür. Sie blieb betreten stehen – vor wem wollte sie das eigentlich geheimhalten? Vor Mischa, der in der Küche so hastig würgte, daß rings um den breiten Napf kleine Bröckchen Hundefutter verstreut lagen? Warum sollte sie sich davor schämen, einem Mann, selbst einem netten Mann wie diesem, zu sagen, daß sie sich geirrt hatte?
    Weil sie nicht geirrt hatte, darum. Weil sie ihn anlügen wollte. Weil sie keine Möglichkeit sah, ihm zu erzählen, was ihr zugestoßen war, ihm nicht sagen konnte, wie sehr sie von der Wahrheit der Erfahrung überzeugt war. Sie spürte auch, daß sie in Gefahr war, den Verstand zu verlieren, aber auch das wollte sie dem netten jungen Mann nicht unbedingt mitteilen.
    Als sie Catur Ramseys Dienstnummer schon gewählt hatte, merkte sie erst, daß es weit nach sechs war; mit einer kurzen Erleichterung stellte sie sich vor, nur eine Nachricht hinterlassen zu müssen, als sein Gesicht auf ihrem Bildschirm erschien. Es war keine Aufzeichnung.
    »Ramsey.« Seine Augen verengten sich leicht; sie hatte an ihrem Ende keine Bildverbindung hergestellt, so daß er auf einen schwarzen Bildschirm blickte. »Was kann ich für dich tun?«
    »Herr Ramsey? Hier spricht Olga Pirofsky.«
    »Frau Pirofsky!« Er klang ehrlich erfreut. »Ich bin echt froh, daß du anrufst. Ich hatte ursprünglich vor, es heute nachmittag bei dir zu probieren, aber es war zuviel Trubel. Es gibt ein paar sehr interessante neue Entwicklungen, die ich gern mit dir besprochen hätte.« Er zögerte. »Eigentlich würde ich mich, glaube ich, lieber persönlich mit dir darüber unterhalten – man weiß heutzutage nie, wer mithört.« Als sie den Mund aufmachte, um etwas zu sagen, sprach er hastig weiter. »Keine Sorge, ich komme vorbei. Wird mir guttun, mal wieder rauszukommen – ich verbringe praktisch mein Leben hinter diesem Schreibtisch. Wann würde es dir passen?«
    Sie fragte sich, was er wohl für Neuigkeiten hatte, und einen Augenblick lang wurde sie unsicher.
    Keine Schwäche, Olga. Du hast eine Menge durchgemacht, und wenn du etwas kannst, dann stark sein.
    »Das … das wird nicht nötig sein.« Sie holte tief Luft. »Ich will … ich werde eine Weile wegfahren.« Es war sinnlos, ihm etwas vorzumachen – genau wie Polizisten konnten Rechtsanwälte so etwas schnell herausbekommen, nicht wahr? »Ich habe wieder gesundheitliche Probleme, und ich darf keinen Streß mehr haben. Deshalb denke ich, daß wir nicht mehr miteinander reden sollten.« Jetzt war es heraus. Ihr war, als hätte sie endlich einen schweren Stein fallenlassen, den sie den ganzen Nachmittag über mit sich herumgeschleppt hatte.
    Ramsey war sichtlich überrascht. »Aber … Verzeihung, aber hat es sich verschlechtert? Dein … deine Gesundheit?«
    »Ich möchte einfach nicht mehr über diese Dinge reden.« Sie kam sich wie ein Ungeheuer vor. Er war so freundlich gewesen, überhaupt nicht so, wie sie es von einem Anwalt erwartet hatte, aber sie wußte, daß wichtigere Dinge sie riefen, auch wenn sie sich noch nicht ganz sicher war, was für Dinge. Es hatte keinen Zweck, jemand anderen da mit hineinzuziehen, schon gar nicht einen anständigen, vernünftigen Mann wie Catur Ramsey.
    Während er noch krampfhaft nach einer höflichen Möglichkeit suchte, sie zu fragen,

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