Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas
Gedanken an den langen Sturz zusammenkrampfte.
Es gibt so vieles, was ich nicht weiß. Kann ich wirklich von etwas sterben, das hier in einer Simulation passiert? Die goldene Harfe meinte, es sei zwar nichts real, aber trotzdem könnte das, was ich sehe, mich verletzen oder töten. Wenn dies alles ein Simulationsnetzwerk ist, hatte sie mit der ersten Behauptung recht, und ich sollte davon ausgehen, daß die zweite ebenfalls stimmt, auch wenn sie nicht sehr vernünftig klingt. Nandi benahm sich jedenfalls so, als ob wir beide in Xanadu in echter Gefahr schwebten …
Schrill pfeifende Musik ertönte ein ganzes Stück weit hinter ihm und störte seine Konzentration. Er seufzte. Fragen über Fragen, und nirgends ein Ende abzusehen. Wie war dieser andere griechische Mythos nochmal, von einem vielköpfigen, drachenartigen Ungeheuer – der Hydra? Wenn man ihr einen Kopf abschlug, wuchsen dafür zwei neue nach – erging es ihm nicht ganz ähnlich? Man sollte meinen, das Zusammentreffen mit Nandi und der Venezianerin Eleanora hätte alle Rätsel aufklären müssen, die ihn plagten, aber je mehr Fragen er weghackte, um so schneller ließ er einen dichten Strauß neuer Hydraköpfe sprießen. Es war wie ein verwickelter modernistischer Thriller über entfesselte Verschwörungstheorien, eine Fabel über die Gefährlichkeit paranoider Wahnvorstellungen.
Die Flöte schrillte abermals, als ob ein Kind seine Aufmerksamkeit gewinnen wollte. Er runzelte die Stirn über die Ablenkung – aber zur Zeit war eigentlich alles Ablenkung. Selbst die Mitteilungen, die ihm anscheinend helfen sollten, waren dubios. Eine Traumversion von Vaala hatte ihn hierher zu einer anderen Version von ihr geschickt, die ihn nicht kannte. Er hatte einen hilfreichen Hinweis von der goldenen Harfe erhalten, die er im Schloß eines Riesen gefunden hatte, aber dann hatte sie erst wieder in der Eiszeit zu ihm gesprochen, wo sie zu einem Juwel geworden war.
War das Schloß nun ein Traum oder eine andere Simulation? Und von wem stammt diese Harfenbotschaft überhaupt? Wenn sie von Nandis Leuten stammt – sie sind meines Wissens die einzigen, die versuchen könnten, einen wie mich zu warnen –, warum hatte dann Nandi noch nie von mir gehört? Und wer ist diese Vogelfrau Vaala, und warum bin ich mir so gottverdammt sicher, daß ich sie kenne?
Paul holte den letzten Rest Brot aus einer Falte seines zerschlissenen Kittels, kaute und schluckte ihn hinunter und setzte dann seinen Weg auf dem Felsgrat in der ungefähren Richtung der aufdringlichen Flöte fort. Als er dem Pfad bergab folgte, wurde das Spielen von einem lauten und rasch immer lauter werdenden Bellen übertönt. Es war kaum durch seine zerstreuten Gedanken in seine Wahrnehmung gedrungen, als schon vier mächtige Doggen mit weit aufgerissenen roten Mäulern in wilder Jagd den Pfad hinaufgeprescht kamen, aufgeregt und blutrünstig kläffend. In jähem Schrecken blieb er stehen und wich ein paar Schritte zurück, aber der Hang hinter ihm war steil und bot keine Zuflucht, und daß er keine Chance hatte, vor diesen vierbeinigen Monstern davonzulaufen, war ihm klar.
Während er sich bückte und den Boden nach einem Ast abtastete, mit dem er sich wehren und das Unvermeidliche immerhin noch ein wenig hinauszögern konnte, gellte ein lauter Pfiff über den Hügel. Die Hunde hielten etwa zehn Meter vor Paul an und drehten sich wütend bellend auf der Stelle, kamen aber nicht näher. Ein schlanker junger Mann trat weiter unten hinter einem Stein hervor, musterte Paul kurz und pfiff dann noch einmal. Die Hunde zogen sich knurrend zurück, verzichteten sichtlich ungern auf die sichere Beute. Als sie den jungen Mann erreicht hatten, gab dieser dem vordersten einen leichten Klaps auf die Flanke, und alle trotteten wieder den Hang hinunter. Er winkte Paul, ihm zu folgen, dann setzte er eine Flöte an die Lippen, drehte sich um und schlenderte mit heiterem, wenn auch nicht sehr musikalischem Gefiepe hinter den rasch enteilenden Hunden her.
Paul wußte nicht, was er von alledem halten sollte, aber er hatte nicht vor, jemanden zu kränken, dem so große, angriffslustige Tiere aufs Wort gehorchten. Er ging hinterher.
Ein ebenes Stück Land zwischen den Hügeln kam hinter der nächsten Biegung in Sicht, ein weiter, offener Platz mit wenigen Gebäuden darauf, aber was Paul zunächst für eine zweite große Wohnanlage hielt, etwas primitiver gebaut als der Königssitz auf dem Hügel, stellte sich bald als ein Gehöft
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