Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas
edlen alten Bedienten überschwengliche Lobeshymnen auf ihren edlen verschollenen Herrn anhören, aber unterdessen muß ich in meinem eigenen Haus auf dem Fußboden schlafen. Er besann sich und grinste schief. Im Haus der Figur, die ich darstelle. Aber Tatsache ist, daß ich was unternehmen muß.
Eumaios setzte ihm Gerstengrütze und Spieße mit gebratenem Schweinefleisch vor. Beim Essen redete Paul über dies und das, aber er hatte nicht gut genug von dem Epos im Kopf, um viel erzählen zu können, was den Sauhirten interessierte. Unterstützt von dem Essen, mehreren gut gefüllten Schalen Wein und der nachmittäglichen Hitze verfielen er und Eumaios schließlich in eine satte, schweigende Dumpfheit, die sich nicht sehr von der der Tiere draußen unterschied. Eine dunkle Erinnerung regte sich in Paul.
»Hat der König nicht einen Sohn? Tele … irgendwas?«
»Telemachos?« Eumaios rülpste abermals leise und kratzte sich. »Ja, ein Prachtkerl, ganz der Vater. Er hat sich heimlich auf die Suche nach unserm armen Odysseus begeben – ich glaube, er wollte zu Menelaos, dem Kameraden seines Vaters vor Troja.« Während er die schlechte Behandlung beschrieb, die Telemachos von den Freiern erdulden mußte, ging Paul die Frage durch den Kopf, ob die Abwesenheit des Sohnes zum Szenarium der Simwelt gehörte, oder ob es einen direkten Bezug zu ihm gab. Hätte Gally dieser Sohn sein sollen? Der Gedanke war schmerzlich ernüchternd, und einen Moment lang betrachtete Paul sich selbst wie von außen – hingelümmelt in der stinkenden Hütte eines imaginären Sauhirten, betrunken von verdünntem Wein und unverdünntem Selbstmitleid. Es war kein schöner Anblick, nicht einmal in seiner Vorstellung.
Sei nicht blöde, sagte er sich. Das System hätte nur dann wissen können, daß ich Gally bei mir hatte, wenn er mit mir in diese Simulation gekommen wäre, und das ist er nicht. Diese Bestien haben ihn in Venedig umgebracht. So unklar ihm sein eigener Zustand war, an Gallys Schicksal war kaum zu zweifeln – die grauenhafte, erschütternde Szene war völlig eindeutig gewesen.
Aber während er an den Jungen dachte, kam ihm abermals die Frage, wie das ganze System funktionieren mochte. Es gab Bürger und Replikanten, soviel war klar, aber fielen alle anderen, die Gallys und die Penelopes, in ein und dieselbe Kategorie? Die Vogelfrau war hier, aber es gab auch eine Version von ihr auf dem Mars. Und was war mit der, die ihm im Traum erschien? Wenn es mehrere Versionen von ihr gab, konnten diese dann niemals koexistieren, niemals ihr Wissen einander mitteilen? Sie mußten irgendeinen roten Faden gemeinsam haben, wie sonst hätte die Traumfrau in der Neandertalerwelt von ihrem anderen Ich hier auf Ithaka wissen können?
Und was war mit seinen Verfolgern, diesen beiden scheußlichen Kreaturen, die ihn von einer Simulation zur anderen hetzten? Waren sie richtige Menschen?
Die letzten Momente in Venedig fielen ihm wieder ein, das bizarre Durcheinander der Ereignisse – Eleanora, eine reale Frau, die jedoch in ihrer eigenen Simulation als eine Art Gespenst erschienen war, die Finchfigur und die Mulletfigur, die ihn einmal mehr aufgespürt hatten, herzlos und gnadenlos wie ansteckende Viren … und die Pankies.
Mein Gott, wie passen die da rein? überlegte Paul. Sie sahen aus wie Finch und Mullet, aber sie waren anders – der gleiche Fall wie bei den verschiedenen Gestalten meiner Vogelfrau. Aber in jeder Simulation, wo ich war, hat es immer nur eine Version von ihr gegeben, entweder eine real vorkommende Figur wie Penelope oder eine Traumgestalt. Die Pankies und ihre Doppelgänger sind beide zur gleichen Zeit in Venedig aufgetaucht …
Er konnte den merkwürdigen Ausdruck nicht vergessen, der auf Undine Pankies breitem, schwammigem Gesicht erschienen war, die instinktive, geradezu automatische Reaktion. Sie und ihr schmächtiger Ehemann hatten sich einfach abgewandt und waren in den Katakomben verschwunden wie zwei Schauspieler, die gemerkt hatten, daß sie im falschen Stück waren.
Seltsam, wie häufig wichtige Dinge – besonders solche, die mit der geheimnisvollen Frau zu tun hatten – sich im Dunstkreis der Sterbenden und Toten abspielten. Die venezianischen Gruften, der sterbende Neandertalerjunge, die exhumierten Leichen im Friedhof an der Westfront. Tod und Sterben. Obwohl, in Hampton Court hatte es auch ein Labyrinth gegeben. Labyrinthe und Friedhöfe – was faszinierte diese Leute daran?
Ein Gedanke keimte in ihm auf.
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