Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas
welchem Zweck er ein längliches Stück Holzkohle wie einen Schreibstift in der Hand hielt. Sein Sim wirkte älter als der Wassilis, aber jünger als der von Herrn Pingalap, schlank und unauffällig.
»Nandi, Frau Simpkins«, sagte er. »Nandi Paradivasch. Ich bin soeben aus einer der andern Simulationen eingetroffen, und deine Kameraden waren so gut, mich über die neuesten Entwicklungen zu informieren.«
Er nickte Orlando und Fredericks freundlich, aber knapp zu. »Sehr erfreut, eure Bekanntschaft zu machen. Jetzt entschuldigt mich bitte, ich möchte ein paar Berechnungen über die Gateways anstellen.«
Orlando spürte ein Zupfen in den Haaren, das sich wie Spinnwebfäden anfühlte: Ein paar Mitglieder der Bösen Bande hatten sich dort niedergelassen, weil sie ein Ruheplätzchen suchten. Noch weitere landeten und hielten sich an Fredericks’ Schultern fest. »Und was machen wir jetzt?« fragte Orlando.
Missus Simpkins nahm neben den anderen Platz. »Erstmal möchte ich von meinen Freunden hören, was es Neues gibt. Wir haben uns nicht mehr gesehen, seit das mit dieser Belagerung losging. Danach beratschlagen wir, was ihr am besten tut.«
»Chizz.« Orlando lehnte sich mit dem Rücken an die Wand und ließ sich zu Boden gleiten, wo er seine langen Thargorbeine ausstreckte. Ein Teil von ihm bäumte sich kurz gegen die Vorstellung auf, daß alle diese Erwachsenen unter sich abmachen wollten, was er zu tun habe, aber im Augenblick hatte er nicht die Kraft, sich gekränkt zu fühlen. Er pflückte sich ein gelbes Äffchen vom Hals, das ihn mit seinem Gekrabbel kitzelte, und hielt es hoch, damit er ihm in sein winziges Gesichtchen blicken konnte.
»Welcher bist du?«
»Huko. Du hast die Nase voll mit Haaren voll, Alter.«
»Danke für die Mitteilung. Kannst du mir Zunni holen? Oder – wie hieß der andere nochmal – Kaspar?«
»Zunnis da.« Der kleine Huko deutete auf einen Punkt an Orlandos Kopf, den er nicht sehen konnte, knapp oberhalb seines linken Ohres. Orlando führte sachte den Finger an die Stelle und rief ihren Namen. Als er merkte, daß sie sich auf die Fingerspitze gesetzt hatte, holte er sie nach vorne.
»Zunni, ich muß dir ein paar Fragen stellen.«
Ihre Augen wurden groß. »Gehts jetzt mim affengeilen Spaß los, Landogarner?«
»Noch nicht ganz. Ich möchte, daß du mir erzählst, was mit euch passiert ist, nachdem … nachdem wir das letztemal alle in meinem ElCot zusammen waren. Draußen, nicht hier in Otherland. Ihr wolltet uns zu jemand bringen, der ›Krebs‹ hieß, weißt du noch?«
»Krebs! Krebs!« Huko, der irritierend dicht neben Orlandos Ohr flatterte, gab einen fiepsigen Klagelaut von sich. »Krebs kaputt!«
»Krebs voll putt«, bestätigte Zunni. Sie klang ehrlich bekümmert; so traurig hatte er ein Kind der Bösen Bande noch nie erlebt. »’s Große Fiese Nix is so schlimm in’n rein, daß er totgangen is.«
Orlando schüttelte den Kopf; ein paar der Bandenaffen verloren den Halt, konnten sich aber im letzten Moment noch an seinen Haaren festklammern und baumelten nun vor seinen Augen hin und her. »Was bedeutet das? Was genau ist das Große Fiese Nichts?«
Die sprachliche Kompetenz der Kinder ließ nach wie vor zu wünschen übrig. Es dauerte fast eine Stunde, bis Orlando sich die Geschichte der Bösen Bande zusammengereimt hatte. Fredericks setzte sich irgendwann im Schneidersitz neben ihn, was die Menge der ihn bedrängenden Affen halbierte und die Befragung erleichterte.
Die Flatterhaftigkeit der Affen, im übertragenen wie im wörtlichen Sinne, war nicht das einzige Problem. Sie redeten in einer ganz eigenen Sprache, und obwohl Orlando die meiste Zeit seines jungen Lebens online verbracht hatte, fand er gut die Hälfte dessen, was sie sagten, unverständlich. Diese Kleinen, fast alle aus TreeHouse-Familien gebürtig und allein dadurch schon mit hoher Wahrscheinlichkeit exzentrisch veranlagt, trieben sich länger in den Maschen des weltweiten Telekommunikationsnetzes herum, als sie zurückdenken konnten. Sie sahen die Welt der Virtualität mit ganz anderen Augen als Orlando. Die Bande kümmerte sich nicht groß darum, was ein virtuelles Environment darstellen sollte, da die Kinder sich angewöhnt hatten, mit imitierten Wirklichkeiten völlig selbstverständlich umzugehen, noch bevor sie richtig sprechen konnten. Sie nahmen das Environment viel mehr als das, was es war. Selbst das Otherlandnetzwerk war trotz der schier unglaublichen Lebensechtheit, die es für
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