Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas
entschied.
»Und das wäre …?«
»Bloß die Luft, die durch den Tempel streicht. Ich vermute, der Zug kommt von diesen ganzen Tunneln und den unterschiedlichen Lufttemperaturen.« Er grinste über Orlandos Gesichtsausdruck. »Ich bin vielleicht nur ein Hausgott, Junge, aber ich bin nicht blöde.«
Wieder verspürte Orlando fast so etwas wie Zuneigung zu dem häßlichen kleinen Kerl. »Was machst du eigentlich so? Ich meine, wie bringt ein Hausgott so seine Zeit zu?«
»Er zankt sich meistens mit größeren Göttern rum.« Bes’ kauziges Gesicht wurde ernst. »Wenn zum Beispiel eine der Hathors beschließt, es sei für ein Kind an der Zeit zu sterben, dann fleht die Mutter mich an, Fürbitte einzulegen. Oder manchmal werde ich in einen Streit zwischen Nachbarn verwickelt – wenn ein Mann seine Tiere auf dem Grund und Boden seines Nachbarn rumtrampeln läßt, dann wacht er unter Umständen am Morgen auf und stellt fest, daß ich in der Nacht da war und seine Tiere krank gemacht habe.«
»Hört sich ziemlich mickrig an.«
Der Blick des Zwerges war pfiffig. »Wir können nicht alle Kriegsgötter sein, nicht wahr?«
Sie trotteten weiter. Orlando konnte sich an seinen Zustand früher am Morgen kaum mehr erinnern – an jenes wunderbare, wenn auch illusorische Gefühl, von Gesundheit durchströmt zu sein wie von Blut.
Auch sonst schien sich niemand in diesen heißen Gängen sonderlich wohlzufühlen. Sogar die Affen erlahmten ein wenig und zogen sich auf ihrer jetzt einigermaßen geraden Bahn hinter Bes zu einem kleinen V auseinander wie Gänse, die zum Überwintern in den Süden fliegen.
Schließlich führte der kleine Hausgott sie eine lange Steigung hinauf, die an einer mit Hieroglyphen gravierten, sehr massiv wirkenden Steinmauer endete. Er hieß sie alle von der Mauer zurücktreten und berührte dann nacheinander mehrere Schriftzeichen derart flink, daß es unmöglich war, seinen Bewegungen zu folgen. Nach einer kurzen Stille rumpelte es, und die Mauer öffnete sich in einem weiten Bogen. Eine riesenhafte hellblaue Gestalt füllte den ganzen Durchgang aus, als sie in den Lampenschein trat. Kreischend flog die Böse Bande in alle Richtungen auseinander.
Einen Moment lang meinte Orlando, einem der ungeheuerlichen Greifen von Mittland gegenüberzustehen, doch dieses Wesen war viel größer, und obwohl es den gleichen Löwenkörper besaß, hatte sein Kopf ein starkknochiges menschliches Gesicht. Es setzte sich auf sein Hinterteil, so daß der Eingang völlig versperrt war, und hob eine Pranke von der Größe eines Lkw-Reifens. »Bes«, brummte die Stimme, daß Orlando die Knochen bebten. »Du bringst Fremde.«
Der kleine Gott trat vor, bis er direkt unter der gewaltigen Tatze stand wie ein einschlagbereiter dicklicher Nagel. »Ja, Dua. Wie steht’s mit der Belagerung?«
Der Sphinx beugte sich vor, um nacheinander Orlando, Fredericks und Bonnie Mae in Augenschein zu nehmen. Obwohl seine Größe und sein dumpfer, tierischer Geruch furchterregend waren, hatte er auch eine ganz eigentümliche Schönheit: Die kolossalen Gesichtszüge waren zwar die eines lebendigen Menschen, aber besaßen gleichzeitig etwas Steinernes, als wäre er bereits halb zur Statue erstarrt. »Die Belagerung?« grollte er. »So gut, wie es mit einer Riesendummheit stehen kann. Aber ich bin nicht hier, um Kriege im Himmel zu unterstützen – und auch nicht, um sie abzuwenden. Ich bin hier, um den Tempel des Re zu schützen. Und du, kleiner Bes? Warum bist du hier?«
Der Zwerg verneigte sich. »Um diese Gäste zusammen mit ihren Freunden herzubringen. Um zu sehen, was ich sehen kann. Du weißt schon, dies und das.«
Der Sphinx schüttelte sein gewaltiges Haupt. »Natürlich. Das hätte ich wissen müssen. Ich werde dich durchlassen, und die Fremden auch, obwohl sie alle nicht sind, was sie zu sein scheinen. Du bist mir dafür verantwortlich, was sie hier tun, kleiner Gott.« Duas Kopf schob sich vor wie der Ausleger eines Baggers, bis er nur Zentimeter vor Fredericks’ blassem, entsetzt glotzendem Gesicht hing. »Vergeßt nicht, dieser Tempel steht unter der Obhut von mir und meinem Bruder Saf. Wir werden nicht dulden, daß er von außen oder von innen entweiht wird.«
Dua trat aus dem Weg und ließ sie passieren.
»Ihr habt gerade ›Morgen‹ kennengelernt«, sagte Bes vergnügt. »Sein Bruder ›Gestern‹ ist zu Besuchern genauso freundlich.«
»Ich wette, wenn die Fieslinge draußen bleiben, dann nicht deswegen, weil sie Skrupel
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