Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas
haben, den Tempel zu entweihen«, sagte Fredericks in bebendem Flüsterton, als sie ein paar Biegungen hinter sich gebracht hatten. »Sie wollen nicht von dem Apparillo da vorn zu Hackfleisch verarbeitet werden.«
»Unterschätzt Tefi und Mewat nicht, Jungs«, sagte Bonnie Mae. »Die haben mehr drauf als nur Körperkraft, und selbst die Sphinxe werden sich nicht mit ihnen anlegen, wenn sie’s vermeiden können.« Sie schüttelte den Kopf. »Aber Dua und Saf werden auch nicht kampflos zusehen, wie der Tempel erobert wird. Es wird kein Zuckerschlecken werden, wenn’s hier erstmal losgeht.«
»Und in dieses Schlamassel hast du uns reingeführt?« Der Zorn ließ Orlando wieder ein klein wenig erstarken. »Herzlichen Dank auch!«
»Ihr werdet vorher längst weg sein«, entgegnete sie müde. »Wir übrigen werden hierbleiben und die Sache ausbaden.«
Beschämt hielt Orlando daraufhin den Mund. Wenig später gelangten sie durch einen bunt bemalten Bogen in das erste helle Licht seit Betreten des Tunnels Stunden zuvor.
Den Mittelpunkt des Re-Tempels markierte ein einzelner Sonnenstrahl, der von der Decke viele Meter über ihnen durch die von Rauch und Staub getrübte Luft schnitt wie ein Suchscheinwerfer durch den Nebel. Obwohl der Effekt höchst imposant war, lag der Rest des gigantischen Tempelinneren nicht völlig im Dunkeln – in Nischen an sämtlichen Wänden brannten Lampen und beleuchteten die vom Boden bis zur Decke reichenden gemalten Szenen von Res heldenhafter Fahrt über den Taghimmel in seiner Sonnenbarke und von seiner noch heldenhafteren Fahrt durch die Unterwelt in den dunklen Nachtstunden, in denen er gegen die Schlange Apep kämpfte, bis er mit Tagesanbruch endlich den Sieg errang.
Aber natürlich war dies nicht das alte Ägypten – es war die Version, die das Otherlandnetzwerk davon simulierte. Es gab viele Gestalten, die merkwürdiger und faszinierender waren als selbst ein derart eindrucksvolles Bauwerk, und Orlando hatte bereits begriffen, daß der Sphinx Dua hier eher die Regel als die Ausnahme war. Bonita Mae Simpkins hatte zuvor erklärt, daß es bei Nacht in den Straßen von Abydos von Monstern wimmelte. Wenn sie der Meinung war, daß die Leute hier drin normal waren, dann hatte sie, fand Orlando, wahrscheinlich ein bißchen zu lange in Abydos gelebt.
Selbstverständlich gab es auch ganz gewöhnliche Ägypter, von Kindern auf den Armen ihrer Eltern bis hin zu Soldaten, die anscheinend aus der Armee des Osiris desertiert waren (viele von ihnen hatten den etwas gehetzten Blick von Leuten, die sich noch nicht ganz sicher waren, ob sie auf das richtige Pferd gesetzt hatten). Diese einfachen Leute hatten überall ringsherum ihr Bettzeug ausgebreitet, so daß die Haupthalle an den Rändern den Eindruck eines Campingplatzes oder eines der Shantytowns machte, die Orlando immer in den Nachrichten sah. Aber dies war auch ein Aufstand von Göttern, nicht nur von Sterblichen, und die Götter waren absonderlich und phantastisch in ihren mannigfachen Gestalten -Frauen, denen Geweihe aus den schwarzen Locken wuchsen oder die anstelle normaler menschlicher Gesichter die schmalen Köpfe von Schlangen oder von Vögeln hatten. Einige der Götter und Göttinnen waren nur durch ihre Größe oder einen gewissen goldenen Glanz auf der Haut als solche zu erkennen, aber anderen schwebten funkelnde Donnerkeile über den Häuptern oder standen schneckenförmig gekrümmte Widderhörner vom Schädel ab. Einige hatten sogar ganz und gar Tiergestalt angenommen, so eine höchst eindrucksvolle Kuh, im Hinterhandstand vielleicht zweieinhalb Meter groß, mit riesigen braunen Augen voller Mitgefühl und Verständnis. Jedenfalls war dies das Gefühl, das für Orlando sehr stark von ihr ausging, obwohl sie gut fünfundzwanzig Meter von ihm entfernt war und nicht einmal in seine Richtung blickte, was in ihm den Verdacht nährte, daß es zu ihren Eigenschaften als Göttin gehörte, in anderen Einfühlung und Vertrauen zu wecken.
Ihr früherer Weggefährte, der wolfsköpfige Gott Upuaut, thronte über dem Ganzen auf einem Lehnstuhl, der nahe der Mitte des großen Raumes auf einem Podest stand. Das Gesicht des Wolfes war würdevoll – er hatte seine lange Schnauze auf eine Hand gestützt und lauschte drei zu seinen Füßen sitzenden jungen Frauen, die ihm leise Hymnen vorsangen.
Mehrere andere Götter versuchten aus diesem oder jenem Grund seine Aufmerksamkeit zu bekommen, vielleicht weil sie die Verteidigungsstrategie
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