Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas
Primoris anredeten, nicht mehr viel Gelegenheit, davon Gebrauch zu machen.
»Ein schrecklicher Vorfall«, verkündete er Renie und ihren Begleitern. »Wir haben so viel Mühe darauf verwendet, unsern Markt zu einem sicheren Aufenthaltsort für Besucher zu machen, und jetzt zwei Überfälle in einer Woche! Und auch noch von einem unserer eigenen Novizen, falls es stimmt, was ihr sagt.«
»Von einem falschen Novizen, Primoris«, warf Bruder E3 hastig ein - Florimels Witz ging Renie nicht mehr aus dem Kopf, und im stillen verfluchte sie die Deutsche dafür. »Von einem, der sich bloß als Novize verkleidet hat.«
»Nun gut, wir werden die Sache aufklären. Ah, da ist ja auch Bruder Custodis Major.« Der Abt hob eine fleischige Hand und winkte. »Tritt ein, Bruder, und bringe Licht in unser Dunkel. Hast du den jungen Übeltäter gefaßt?«
Custodis Major, der einen noch kaum ergrauten roten Bart hatte, obwohl er bestimmt über sechzig war, schüttelte den Kopf. »Ich wünschte, dem wäre so, Primoris. Außer Kleidungsstücken war nichts von ihm zu entdecken.« Er legte ein kleines Bündel auf den Tisch des Abtes. »Tschwanli – so heißt er – war erst seit zwei Wochen bei uns, und keiner der andern Novizen kannte ihn besonders gut.«
»Das glaube ich gern«, sagte Renie, »zumal wenn sie nicht gemerkt haben, daß er eine Frau ist.«
»Was?« Der Abt runzelte die Stirn. »Der Verbrecher ist eine Frau? So etwas ist mir noch nie zu Ohren gekommen.«
»Es ist eine lange Geschichte.« Renie hatte den Blick nicht von dem Kleiderhäuflein abgewendet. »Dürfen wir uns diese Sachen mal anschauen?«
Der Abt machte eine gnädig, gewährende Geste. Florimel trat vor Renie heran und faltete vorsichtig die Teile auseinander; Renie schluckte ihren Stolz herunter und ließ sie machen. Viel gab es ohnehin nicht zu untersuchen, eine grobe Hemdbluse und ein Paar lange Wollstrümpfe mit Löchern und losen Fäden. »Als ich sie zuletzt sah, hatte sie was anderes an«, bemerkte Renie.
Bruder Custodis Major zog eine buschige rote Braue hoch. »Dies hier ist die Bibliothek, nicht der Kerker, gute Frau, und wir leben auch nicht mehr in der finsteren Zeit nach dem großen Magazinbrand. Meine Schützlinge haben eine zweite Garnitur, damit sie ihre Sachen in die Wäsche geben können, wenn die Walker kommen.«
»Was ist das?« Florimel hielt einen Finger hoch, an dessen Ende ein winziger weißer Krümel klebte. »Das war im Ärmelaufschlag.«
Epistulus Tertius war von den drei Mönchen am flinksten. Er beugte sich vor, kniff die Augen zusammen und sagte: »Mörtel, oder?«
Bruder Custodis Major war langsamer mit seinem Urteil. Nachdem er den Krümel eine ganze Weile betrachtet hatte, meinte er: »Ich glaube nicht, daß er aus der Bibliothek stammt. Seht her, er ist geformt, und der einzige Mörtel, den wir hier haben, ist an den glatten Wänden in den Klosterräumen – die Bibliothek ist ganz aus Holz und Stein.«
Renie konnte es sich nicht verkneifen, vor grimmiger Freude in die Hände zu klatschen. »Immerhin! Das ist wenigstens etwas!« Sie wandte sich an den Abt. »Gibt es irgendeine Möglichkeit rauszufinden, wo das Stück herkommt? Ich weiß, es ist ein großes Haus, aber …«
Der Abt hob abermals die Hand, diesmal um weiteren Fragen Einhalt zu gebieten. »Ich bin sicher, das läßt sich machen.« Er holte einen mit Stoff bezogenen Schlauch hinter seinem Schreibtisch hervor und sprach hinein. »Hallo? Hallo, Bruder Vocus?« Er hielt ihn ans Ohr; als keine Antwort kam, schüttelte er ihn und wiederholte dann den ganzen Vorgang. Schließlich sagte er: »Irgend jemand hat anscheinend meine Sprechverbindung nach unten unterbrochen. Epistulus Tertius, bist du so gut und gehst Bruder Factum Quintus holen? Ich glaube, er katalogisiert heute im Ziegelsaal.«
Der Abt drehte sich wieder den Auswärtigen zu, während der junge Mönch durch die Tür verschwand. »Factum Quintus ist unser Experte für dekorative Baustoffe, aber sein Wissen ist keineswegs auf dieses enge Gebiet begrenzt. Er hat auch hervorragend über Krenelierungen gearbeitet – ja, dank ihm konnten wir überhaupt erst aufklären, daß die Halbkuppelapsis-Urkunden, wie sie damals noch hießen, in Wahrheit aus einer ganz anderen Quelle stammen. Wenn sie eines Tages übersetzt sein werden, wird sein Name darin ehrende Erwähnung finden.« Ein Lächeln verwandelte sein Gesicht, so daß es wie eine flauschige Wolke am Himmel aussah. »Ein tüchtiger Mann.«
Renie
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