Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas
außer acht lassen«, beschied ihn der Abt. »Komm, Bruder, zeige diesen guten Leuten, was du gefunden hast.«
Factum Quintus fing an, seine Urkunden auszurollen, wobei er einen vergilbten, welligen Bogen über den anderen breitete und die Umstehenden anwies, mal diese, mal jene Ecke festzuhalten, bis der Schreibtisch des Abtes völlig unter einer Mulchschicht von Dokumenten verschwunden war, in denen man jetzt Baupläne, Arbeitsanweisungen und mit Lettern gestempelte Lieferscheine erkennen konnte. Sie schienen sich über einen Zeitraum von Jahrhunderten zu erstrecken und reichten von naiven Bildchen mit mythischen Wesen an den Rändern, aber ohne eine einzige wirklich gerade Linie, bis zu recht modern wirkenden Grund- und Aufrißzeichnungen, die jeden Schacht und jedes Ornament fein säuberlich vermerkten.
Der staksige Mönch war in seinem Element und gab einen laufenden Kommentar ab, während er sich vorwärts und rückwärts durch die Lagen wühlte. »… Das wäre freilich in den Morgenmansarden, mehrere Tagesreisen entfernt, und zudem noch stromaufwärts, so daß es mir unwahrscheinlich vorkommt. Aber die Ausbesserungsarbeiten im Turritorium kämen zweifellos in Frage, und ich bin sicher … hmmm, doch, hier, ziemlich hoher Gipsanteil, das wäre also eindeutig möglich.«
Renie blickte auf den Urkundenberg. »Habt ihr keine Angst, daß ihnen was zustoßen könnte?« Sie fand die Mönche für einen Orden von Bücherhütern ziemlich sorglos. »Was ist, wenn eine zerrissen wird?«
»Das wäre natürlich tragisch«, antwortete Epistulus Tertius, der wieder seinen normalen, wenn auch immer noch rötlichen Teint hatte. Seine Augen verengten sich. »Herrje, du denkst doch nicht etwa, dies wären die Originaldokumente, oder?« Er und Bruder Custodis Major gestatteten sich ein leises Lachen, und selbst der Abt mußte schmunzeln. »Nicht doch. Das sind Abschriften von Abschriften. Einige ziemlich alt und insofern durchaus wertvoll – selbst in dieser modernen Zeit ist es schwer, gute Abschriften von Originalen anfertigen zu lassen, ohne Beschädigungen zu riskieren.«
Factum Quintus hatte seinen Monolog leise fortgesetzt, ohne die um ihn herum ablaufende Unterhaltung zu beachten, und hob auf einmal den Finger, als käme er nunmehr zu einem wesentlichen Punkt. »Wenn wir davon ausgehen, daß der Betreffende in den letzten Tagen von dort gekommen ist, wo dieses Teilchen abgebröckelt ist – und das ist wahrscheinlich, weil der Stuck sonst inzwischen nur noch Staub wäre –, dann können wir die Auswahl, denke ich, auf zwei Orte einengen«, erklärte er. »Es stammt höchstwahrscheinlich entweder aus dem Turritorium oder vom Glockenturm der sechs Schweine.«
»Großartig.« Renie wandte sich an den Abt. »Hast du eine Karte, auf der wir sehen können, wie man dort hinkommt?« Sie blickte auf den Tisch, der mit Plänen jeder Art überhäuft war. »Ich befürchte, das ist eine dumme Frage.«
Bevor der Abt ihr antworten konnte, sagte Factum Quintus plötzlich: »Im Grunde könnte ich euch an beide Orte führen. Der Gedanke einer Pionierarbeit über Fassadenreparatur begeistert mich restlos.« Er schüttelte den Kopf. Seine Augen wirkten entrückt, doch ein Licht glomm in ihnen. »Das ist nahezu unerforschtes Gelände.«
»Sind diese Orte so weit weg?« fragte Florimel ihn.
»Niemand hat je auch nur davon geträumt, einen systematischen Überblick über Reparaturarbeiten zu erstellen«, murmelte er, Herrlichkeiten deutlich vor Augen, die andere nur dunkel ahnen konnten. »Doch. Doch, ich werde mitgehen und wenigstens einen Anfang machen.«
Der Abt räusperte sich. Es dauerte etwas, bis Bruder Factum Quintus es mitbekam.
»Ach so«, sagte er. »Wenn du, Primoris, und Bruder Factum Major es erlauben, heißt das.« Sein Gesicht nahm einen leicht schmollenden Ausdruck an wie bei einem Kind, dem man vor dem Essen die Schokolade verboten hat. »Ich wüßte nicht, was es schaden könnte, einen kurzen Abstecher ins Turritorium zu machen und ein paar Dreipässe anzuschauen. Bei meiner Ziegelarbeit bin ich dem Zeitplan um Monate voraus – Walmdächer habe ich ganz fertig und die vorläufige Erfassung der Viersticheltürme so gut wie.«
Der Abt faßte ihn streng ins Auge, aber wenn Factum Quintus etwas von einem Kind hatte, dann schienen seine Erziehungsberechtigten diesem Kind viel durchgehen zu lassen. »Na schön«, sagte der Abt schließlich. »Wenn Bruder Factum dich erübrigen kann, gebe ich meine Zustimmung. Aber du
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