Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas
Person bei dir gespürt.«
»Dort, wo sich mein wirklicher Körper befindet, liegt sie neben mir, in meinen Armen.« Florimel sah zur Seite, um den Blicken der anderen nicht zu begegnen. »Die Apparate halten unsere Körper gesund, unsere Muskeln intakt. Ja, Eirene ist bei mir.« Sie holte tief Luft. »Und wenn sie mich verläßt … werde ich es merken …«
Es waren ausgerechnet T4b und Emily, die sie tröstend berührten. Florimel sträubte sich nicht, aber sie nahm sie auch mit keiner Geste zur Kenntnis. Nachdem vielleicht eine halbe Minute wortlos verstrichen war, stand sie auf und ging vom Feuer weg in die unvollendete Landschaft hinaus, bis sie nur noch eine kleine, dunkle Gestalt vor dem ewigen Grau war.
Nach Florimels Geschichte war es schwer, überhaupt einen Ton aus T4b herauszubringen. Er beantwortete Renies Fragen zunächst nur lustlos und einsilbig. Ja, er heiße Javier Rogers, wie die Stimme der Verlorenen angegeben hatte, habe aber den Namen nie gemocht. Ja, er wohne in einer Vorstadt von Phoenix, aber eigentlich komme er aus So-Phi – er sprach es wie den Mädchennamen aus –, aus South Phoenix, Central Avenue, von der Straße.
»Bin kein seyi-lo Bürgerbubi«, erklärte er nachdrücklich.
Nach weiterem Nachbohren kam Stück für Stück in zerhacktem Goggleboyslang eine recht absonderliche und spannende Geschichte heraus. Trotz seines Namens war er ein Hopi-Halbblut, dessen Mutter sich als junge, auf der Reservation lebende Frau in einen Lkw-Fahrer verliebt hatte. Ihr Entschluß, mit dem Mann durchzubrennen, war mit ziemlicher Sicherheit das letzte romantische Ereignis in ihrem Leben gewesen: Sie und ihr Freund hatten bald darauf den Abstieg in Alkohol und Drogen angetreten, mit gelegentlichen kurzen Unterbrechungen durch auf die Welt kommende Kinder, von denen Javier das erste gewesen war. Nach Dutzenden von Vorkommnissen, wiederholten Mißhandlungen von Frau und Kindern unter Drogeneinfluß, kleinen Verbrechen und Beschwerden der Nachbarn, hatte das Jugendamt eingegriffen und die Rogerskinder ihren Eltern weggenommen. Mama und Papa Rogers schienen es kaum zu registrieren, dazu waren sie zu sehr damit beschäftigt, in ihrer Abwärtsspirale weiterzutrudeln. Die Kinder waren zu einer Pflegefamilie gekommen, die Javier nicht leiden konnte, und nach mehreren Zusammenstößen mit ihrem neuen Pflegevater war er weggelaufen.
Danach war er einige Jahre lang mit hispanischen und indianischen Goggleboygangs durch die Straßen von South Phoenix gezogen, vor allem mit einer, die sich nach einem altamerikanischen Stamm in Arizona, der noch vor den Hohokam gekommen war, Los Hisatsinom nannte, »die Alten«. Die Gang hatte eine große alte Multiworx-Station von Krittapong in einer leerstehenden Innenstadtwohnung, und sie hingen alle reichlich am Netz. Los Hisatsinom hatte einen leicht mystischen Einschlag, den T4b nur mit den Worten beschreiben konnte, »Fen vom tiefsten, Mann, tiefer geht’s nicht«, aber sie gingen auch der sehr viel pragmatischeren Tätigkeit nach, Ausschuß- oder Demokassetten von mexikanischen Chargefabriken zu kaufen, über die Grenze zu schmuggeln und auf dem Gearschwarzmarkt von Phoenix und Tucson zu verschieben.
So war es beinahe zwangsläufig (auch wenn er das deutlich nicht so sah), daß T4b irgendwann verhaftet wurde, »auf ’nem kleinen Hit«, wie er es ausdrückte. Die Polizei hielt ihn an, als er gerade einen Lieferwagen voll gestohlener Ware fuhr, obendrein ohne den mildernden Umstand eines Führerscheins. Weil er minderjährig war, kam er eine Zeitlang in eine Jugendstrafanstalt und anschließend nicht wieder in eine Pflegefamilie, sondern in eine spezielle offene Anstalt für straffällige Jugendliche. Als diese Maßnahmen einigermaßen gegriffen hatten und er ein halbes Jahr weitgehend sauber und unauffällig geblieben war, wurde er freigelassen und unter die Vormundschaft seiner Großeltern väterlicherseits gestellt, eines Paares im fortgeschrittenen Alter, das ihren Enkel in zehn Jahren nur einmal gesehen hatte. Oma und Opa Rogers hatten sich zu spät um die Vormundschaft für die jüngeren Kinder bemüht, und als sie damit gescheitert waren, hatten sie statt dessen Javier als eine Art Trostpreis bekommen. Sie wußten nicht so recht, was sie mit einem Goggleboy anfangen sollten, der von der Kopfhaut bis zu den kleinen Zehen phantasievolle Leuchtstoffmuster unter der Haut hatte, vom Vorstrafenregister ganz zu schweigen, aber sie machten das Beste daraus. Sie
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