Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas
fürchtete ich mich vor Anicho Berg, und ich traf ziemlich gründliche Vorkehrungen, damit niemand etwas von meiner Flucht merkte, bevor ich weg war, und verwischte auch meine Spuren, so gut ich konnte. Ich wurde natürlich sofort als Verräterin gebrandmarkt, um so mehr, als ich einen Großteil der teuren medizinischen Apparate mitnahm, aber ich hatte keine Wahl, denn ich holte auch Eirene aus dem Stadtkrankenhaus heraus, um mich selbst um sie kümmern zu können, sobald wir untergetaucht waren. Wir zogen nach Freiburg, dem einzigen anderen Ort, den ich kannte und wo ich mir recht gute Chancen ausrechnete, keinen Harmonieleuten zu begegnen. Was ich nicht wußte, war, daß im Zuge der immer höher schlagenden Paranoia in der Gemeinde Anicho Berg meine Flucht dazu benutzte, mich als überführte Spionin hinzustellen. Als Berg von der Polizei in einem Kampf erschossen wurde, der anfangs kaum mehr als eine Landnutzungskontroverse war, sich aber rasch zu einem kleinen Krieg auswuchs, waren mehrere seiner Anhänger, die kurz vor der Kapitulation entkommen konnten, davon überzeugt, daß ich sie an den Staat verraten hatte.
Seit der Zeit also halte ich mich versteckt, mittlerweile nicht mehr in Freiburg, sondern in Stuttgart, wo ich sehr spärliche Kontakte zur Außenwelt habe. Ich weiß nicht, ob Bergs Anhänger noch Jagd auf mich machen, weil ich in ihren Augen am Tod ihres Führers schuld bin, aber es sollte mich wundern, wenn sie aufgegeben hätten – sie sind geistig nicht sehr beweglich und nicht gerade offen für neue Ideen, zumal wenn der Abschied von den alten Ideen das Eingeständnis bedeuten würde, daß sie irregeleitet wurden.
Ich kann daran nichts ändern. Ich kann höchstens noch etwas an Eirenes Zustand ändern. Wenn nicht, gibt es für mich keinen Grund mehr, noch weiterzuleben … aber ich werde vor meinem Tod wenigstens alles daransetzen, den Leuten, die ihr das angetan haben, ins Gesicht zu spucken.«
Das dramatische Ende von Florimels Schilderung machte alle sprachlos und betroffen. Renie fühlte sich von der Heftigkeit der Deutschen seltsam beschämt, so als ob dadurch die Ernsthaftigkeit, mit der sie darum rang, die Krankheit ihres Bruders aufzuklären, in Zweifel gezogen worden wäre.
Eine Sache aber machte sie stutzig. »Wenn du dich versteckt hältst«, fragte Renie schließlich, »wenn du befürchten mußt, daß diese Leute immer noch hinter dir her sind, warum hast du uns dann deinen Namen gesagt?«
»Ich habe dir nur einen Vornamen gesagt«, erwiderte Florimel und zog dann eine Miene, die halb finster und halb belustigt war. »Und was macht dich überhaupt so sicher, daß das mein richtiger Name ist? Hast du deinen richtigen Namen benutzt, als du mit dieser Suche im Netz angefangen hast? Wenn ja, dann sinkst du leider in meiner Achtung.«
»Nein, natürlich nicht«, bekannte Renie widerwillig.
Die kleine Emily beugte sich mit großen Augen vor. Sie hatte Florimels Geschichte viel aufmerksamer verfolgt, als irgend jemand es erwartet hätte. Dennoch fragte sich Renie, was eine, die anscheinend das Leben nur aus einer Simulation des Netzwerks kannte, mit so einer Schilderung anfangen konnte. Doch die Frage des Mädchens traf ins Schwarze. »Was ist mit deinem Kind? Wie konntest du deine Tochter allein lassen?«
Florimel, die die jüngste Vergangenheit des Mädchens aus Renies Berichten über die Neue Smaragdstadt kannte, blickte Emily an, als könnte sie die Ursache ihres Interesses vermuten. »Meine Tochter?« Sie zögerte. Als sie nach einer Weile weitersprach, war ein innerer Schutzwall gefallen, und einen Moment lang waren das Leid und die Verletzlichkeit selbst auf ihrem Simgesicht deutlich zu erkennen. »Ich habe sie nicht allein gelassen. Ich sagte ja, daß ich bei der Flucht aus der Harmoniegemeinde meine Anlage mitgenommen habe. Es ist eine sehr gute Anlage. Eirene ist mit mir verbunden, wir hängen am selben telematischen Anschluß. Wir sind über eine Direktleitung an dieses Netzwerk angekoppelt. Ich weiß also wenigstens, wo sie ist – daß sie lebt. Ich kann sie in ihrem furchtbaren Schlaf fühlen, und … und sie ist immer bei mir …« Florimel deckte eine zitternde Hand über ihr Gesicht.
Martine brach das lange, mitfühlende Schweigen. »Ich habe eine zweite Person gespürt«, sagte sie leise. »Ich habe mich gefragt, wie das sein kann, und ehrlich gesagt war das alles so neu für mich, daß ich nicht wußte, ob ich recht hatte, aber ich habe von Anfang an noch eine
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