Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas
Träumen vor. Olga fühlte, daß der Radar in ihrem Kopf, der sie anfangs so untrüglich geführt hatte, langsam unzuverlässig wurde. Sie mußte aus dem blitzschnellen Metallgeschoß heraus, in dem sie von Toronto nach Süden gerauscht war. Sie wollte wieder unrecycelte Luft atmen, Wind im Gesicht spüren. Der schwarze Berg war irgendwo weiter im Süden, aber sie mußte die Welt richtig fühlen können, um zu merken, wo genau in der Welt er sich befand.
Wenn sie ihren Mietwagen durch die dichten dunklen Wälder von Nordgeorgia lenkte oder wenn sie unauffällig in einem Restaurant am Straßenrand saß, konnte sie sich manchmal aus der Perspektive einer Außenstehenden betrachten – eine Frau von sechsundfünfzig, die ihren hervorragenden Job hingeschmissen und ihr Haus und sogar ihr Land verlassen hatte, um irgendeinem unbegreiflichen Ziel hinterherzujagen, und das nur, weil Stimmen in ihrem Kopf sie dazu genötigt hatten – und wußte dann genau, daß sie sich nur für verrückt erklären könnte, wenn sie diese Außenstehende wäre. Wer sonst hörte schließlich innere Stimmen? Wer sonst wäre felsenfest davon überzeugt, daß die Kinder der Welt im Traum zu ihr sprachen? Nur Verrückte, Wahnsinnige. Merkwürdigerweise jedoch störte die Vorstellung sie nicht im geringsten.
Ich fürchte mich nicht davor, wahnsinnig zu sein, erkannte sie eines Abends beim Warten auf eine müde Kellnerin, die ganz vergessen hatte, ihre Bestellung aufzunehmen. Nicht solange ich mir bewußt bin, was ich tue. Ich bin nach wie vor Olga, nach wie vor weitgehend derselbe Mensch.
Es war seltsam, gleichzeitig in sich zu stecken und außerhalb zu stehen, aber es war irgendwie auch beruhigend. Trotz ihres theoretischen Wissens, daß ihr Verhalten unvernünftig, ja geradezu ein Schulbeispiel für Schizophrenie war, konnte sie nichts dagegen machen. Die Stimmen mochten Einbildung sein, Symptom einer Geisteskrankheit, aber sie waren ein Teil von ihr, genau wie der besonnenere Teil auch, und sie waren das Tiefste und Wahrste, was sie seit langem empfunden hatte. Sie mußte sie achten und ehren – alles andere würde auf Selbstvernichtung hinauslaufen, und Olga hatte keinerlei Selbstmordtendenzen. Wenn sie welche gehabt hätte, wäre es nie so weit gekommen, daß sie hier in diesem schlecht beleuchteten Restaurant auf ein Käsesandwich wartete, daß sie immer noch lebte, Jahrzehnte, nachdem ihr geliebter Aleksander und ihr gemeinsames Kind gestorben waren.
Sie fuhr aus Atlanta hinaus und durch Südgeorgia nach Alabama, durch Wälder und Brachland voller Wohnwagen und noch notdürftigerer Behausungen oder durch schwindelerregende innenstädtische Metroplexe, wo die Spiegelglastürme der Telemorphikmagnaten die Skyline beherrschten und jeder schimmernde Wolkenkratzer unmißverständlich klarmachte, daß auch in einer von Informationen gesteuerten Welt die Informationen irgendwo herkamen, selber irgendwo gesteuert wurden. Hier ist dieses Irgendwo, verkündeten die Gebäude stellvertretend für ihre Besitzer. Hier in diesen Firmenpalästen und in vielen tausend andern auf dem ganzen Erdball. Wir kontrollieren die Gateways. Uns gehören selbst noch die Elektronen. Die Mühlseligen und Beladenen unter euch können auf Jesus warten, wenn sie wollen, aber in der Zwischenzeit sind wir die Beherrscher der Erde, die Herren der unsichtbaren Räume. Wir leuchten.
Nacht für Nacht lag Olga in einem der zahllosen austauschbaren Autobahnmotels im Bett, ungestört von den vorbeifahrenden Lastern, deren Dröhnen durch ihren telematischen Shunt fast vollkommen ausgeschaltet wurde, den Kopf voller Bilder und leiser Stimmen. Die Kinder umgaben sie wie scheue Gespenster, und traurig wisperte jedes von einer verloren scheinenden individuellen Vergangenheit, begnügte sich jedes damit, als Teil eines zersprengten Chores diese Geschichte immer und immer wieder vorzutragen. Wie Tauben fanden sie sich stupsend und gurrend bei ihr ein, und Nacht für Nacht brachten sie sie an einen Ort, wo sie den großen schwarzen Zacken steil in den Himmel stoßen sehen konnte.
Schon näher, erklärte ihr die murmelnde Menge. Näher.
Jeden Morgen wachte sie müde, aber mit einem eigentümlichen Hochgefühl auf. Selbst die gelegentlichen grellen Schmerzen im Schädel, die sie noch wenige Wochen zuvor mit ständigem Schrecken erfüllt hatten, kamen ihr beinahe angemessen vor, als ein weiterer Beweis, daß sie an etwas Wichtigem dran war. Zum erstenmal seit Jahren passierte ihr
Weitere Kostenlose Bücher