Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas
besiegt.«
Der Demetertempel lag tief im Schatten am Hang, als wartete er halb schlafend auf sie, aber Paul hatte kaum Augen dafür. Das schlaffe Gesicht der jungen Frau, in der er niemand anders als Ava sehen konnte, faszinierte und peinigte ihn zugleich. Der jähe Erinnerungsschub hatte zunächst eine volle Wiedergewinnung seines Gedächtnisses verheißen, doch er war dann genauso plötzlich abgebrochen, wie er begonnen hatte, so daß Paul jetzt eine tiefe Enttäuschung empfand, die fast noch quälender war als die Amnesie vorher.
Ich hab für den Mann gearbeitet, der das alles gebaut hat? Ja, das hatte er – er konnte sich daran erinnern, daß er die Stelle bekommen hatte, an die Ankunft, an das grauenhafte Gespann Finney und Mudd …
Finch und Mullet … die Zwillinge …
Da hatte er ein Stück des Puzzles – oder nicht? Wenn sie wirkliche Menschen waren, Jongleurs engste Vertraute, wie konnten sie dann in verschiedenen Gestalten durch das Otherlandnetzwerk streifen und in belanglosen Simwelten herumspielen wie dem Oz, wo Renie und !Xabbu gewesen waren?
Er ließ diese Spekulation sein. Es gab wichtigere Fragen, und die allerwichtigste galt möglicherweise dieser jungen Frau. Er beobachtete, wie die Schatten, die !Xabbus Fackel machte, über ihre blassen Züge glitten. Gab es irgendwo eine reale Ava, war sie vielleicht noch in der wirklichen Welt, wo sie das Netzwerk manipulierte, um ihm zu helfen? Aber aus welchem Grund sollte sie das tun? Was bedeutete ihr Paul? Und wenn sie ihm beizustehen versuchte, wie erklärten sich dann die anderen Versionen – diese Emily hier, Odysseus’ Frau Penelope, die Vogelfrau Vaala –, die alle wie verlorene Seelen durch das Netzwerk irrten?
Paul war den anderen in den Tempel gefolgt, ohne es zu merken. Es war ein niedriges, schmales Gebäude und von einem Ende zum anderen kaum zwanzig Meter lang; im Fackelschein sah man, daß es wenig mehr enthielt als einen kleinen Altar und das Standbild einer Frau mit einer Getreidegarbe im Arm.
»Hier ist nichts …«, begann Renie, doch ihre nächsten Worte gingen in dem anschwellenden Radau von der Straße unter, grölenden und kreischenden Stimmen, auf dem Pflaster zersplitternden Tonwaren und anderen Dingen. Die griechischen Plünderer hatten endlich den stillen alten Tempelbezirk erreicht.
»Doch, hier ist etwas«, widersprach Martine.
Paul schob die obsessiven Gedanken an Ava beiseite. In wenigen Momenten konnten die Eroberer kommen, um nachzuforschen, ob Demeter irgendwelche Schätze in ihrem Tempel versteckte. »Haltet nach Stufen Ausschau«, riet er, denn die Katakomben in Venedig waren ihm wieder eingefallen.
»Da drüben.« Florimel hatte in der Wand hinter dem Altar, verborgen von einem breiten Behang, eine Treppennische mit einer Tür gefunden. Wie in einem Albtraum gefangen stöhnte Emily auf, als !Xabbu und T4b sie herantrugen, und Paul spürte, wie sich sein Herz, vielleicht unter einer versunkenen Erinnerung oder einer Vorahnung, kurz zusammenkrampfte.
»Wer ist da?« rief Martine plötzlich und drehte sich zur Eingangstür des Tempels um. »Ist da jemand?«
Renie nahm T4b die Fackel ab, aber abgesehen von ihnen war der kleine Tempel menschenleer. »Niemand da, aber draußen kommt ein Haufen unangenehmer Typen die Straße rauf. Gucken wir mal, wo die Treppe hinführt.«
Martine zog an der Tür, doch sie war fest verschlossen. Sie konnten jetzt das Schreien und Lachen betrunkener Männer und das schrille Schluchzen einer Gefangenen in unmittelbarer Nähe hören. Renie trat fluchend gegen das schwere Holz, aber die Tür zitterte kaum.
Wenn doch bloß dieser Mordskerl Ajax hier wäre, dachte Paul verzweifelt. Der hätte das Ding in einer Sekunde aus den Angeln gerissen.
»Moment mal«, sagte er und trat hastig vor. »Ich vergesse immer wieder, daß wir in einer Simulation sind. Fredericks, komm her. T4b, du auch.« Paul winkte ungeduldig, und T4b reichte schließlich Emilys Beine an Florimel weiter. »Wir sind Helden, schon vergessen? Praktisch Halbgötter, doppelt so stark wie gewöhnliche Sterbliche. Ihr seid Patroklos und Glaukos, Stars des Trojanischen Krieges. Wenn Orlando nicht so erledigt wäre, würde er dieses Ding wahrscheinlich ganz allein eintreten, aber wir schaffen es auch. Kommt, wir werfen uns zusammen dagegen.« Er stellte sich in Position, Fredericks und T4b quetschten sich neben ihn in die enge Nische am Fuß der Stufen, dann zählte er bis drei. Sie sprangen zugleich. Die Tür zerbarst
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