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Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas

Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas

Titel: Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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Mondlandschaft, aber groß genug, um eine ganze Stadt zu fassen, lag ein Körper. Er war von menschlicher Gestalt, jedenfalls schien es so, aber eigenartig unscharf – zeitweise schien er deutliche Konturen annehmen zu wollen, die jedoch gleich wieder verwischten. Er lag ausgestreckt auf dem Rücken, die Arme wie festgebunden an den Seiten, und schien die Quelle des Lichtes zu sein, das die umliegenden Hänge beleuchtete und sanft unter dem schwarzen Himmel flackerte. Die gigantische Gestalt füllte das ganze Tal aus.
    »Das gibt’s nicht«, flüsterte Renie an Pauls Schulter, als eine gute halbe Minute vergangen war.
    Winzige Figuren wimmelten auf der ungeheuerlichen Erscheinung; die nächsten von ihnen stiegen auf den Füßen herum, die fast so hoch waren wie die umgebenden Gipfel, und wirkten genauso eigenartig verschwommen wie der Riese selbst. Auch sie waren in etwa wie Menschen geformt, schienen aber in flatternde weiße Gewänder gehüllt zu sein, die an Leichentücher erinnerten.
    Oder an Laborkittel, dachte Paul, dessen Gehirn bei diesem erschlagenden und unbegreiflichen Anblick nach der winzigsten faßlichen Einzelheit haschte. Das einzig Vergleichbare, was er je gesehen hatte, trieb aus Kindertagen nach oben, ein Bild in einem alten Buch, wie Gulliver von den Liliputanern gefangengenommen wurde, aber es kam in keiner Weise an die absolute Absonderlichkeit dieses Ortes, dieser Szene heran. Einen Moment lang fühlte er sich wieder wie neulich am Strand von Ithaka, wo die Luft ihn drückend umschlossen hatte und jedes Molekül wie fieberheiß aufgeladen gewesen war.
    »Oh«, hauchte jemand. Paul hatte das Gefühl, es könnte Fredericks gewesen sein, aber seine Aufmerksamkeit konnte bei nichts anderem verweilen: Das überwältigende Schauspiel, das sich ihm bot, versprengte seine Gedanken immer wieder aufs neue, bevor sie sich sammeln konnten. »Oh, sie haben Gott getötet.«
    Ein ungeheures Seufzen wie eine Sturmbö brummte hallend durch den großen Talkessel, ein derart tiefer Ton, daß sie ihn mehr in den Knochen und im Vibrieren des Berges unter ihren Füßen fühlten, als daß sie ihn hörten. Es kam wieder, aber diesmal hatte der hörbare Teil einen deutlichen Rhythmus, klang traurig und wie nicht von dieser Welt.
    »Ich glaube nicht, daß er tot ist.« Paul mußte sich wundern, daß er noch zusammenhängende Wörter hervorbringen konnte. »Er singt.«
    Martine stieß plötzlich einen leisen Schreckenslaut aus und sank auf die Knie. Florimel bückte sich, um ihr zu helfen. Sie bewegte sich langsam, wie in vereisendem Wasser schwimmend, und nahm dabei nicht die Augen von der kolossalen Gestalt, die vor ihnen lag.
    »Herr, steh mir bei!« murmelte Martine mit tränenerstickter Stimme. »Ich kenne das Lied.«

Kapitel
In Ewigkeit
    NETFEED/MODERNES LEBEN
    Robinette Murphy wartet immer noch
    (Bild: FRM bei einem Auftritt in der Spielshow »Hättest du’s gewußt?«)
    Off-Stimme: Die VIP-Hellseherin Fawzi Robinette Murphy, die erklärt hatte, sich zur Ruhe setzen zu wollen, weil sie »das Ende der Welt« vorausgesehen habe, scheint sich nicht davon stören zu lassen, daß die Welt keinerlei Anzeichen erkennen läßt, enden zu wollen.
    (Bild: Murphy beim Verlassen einer Kirche)
    Auf die Frage, ob sie ein Comeback plane, antwortete sie mit einem grimmigen Lachen. Und auf die Frage, ob sie ihre apokalyptische Prophezeiung bedauere, antwortete sie:
    (Bild: Murphy beim Einsteigen in ein Auto)
    Murphy: »Ihr armen Würstchen. Kommt und fragt mich das in ein paar Monaten nochmal – wenn ihr könnt.«
     
     
    > Sie hatten offensichtlich einen Endpunkt erreicht, einen Ort der Entscheidung, aber nachdem der Schock des unheimlichen Anblicks sich ein wenig gelegt hatte, empfand Renie vor allem Enttäuschung.
    »Hat das alles auch irgendwas zu bedeuten?« fragte sie irritiert. »Martine, du hast was über ein Lied gesagt.« Sie blickte auf den Boden, wo die Französin kniete und sich wiegte wie von Kummer überwältigt. Sie sprach sie noch einmal sanfter an. »Martine?«
    »Ich … ich kenne es. Ich habe es vor langer Zeit jemand Unbekanntem vorgesungen. Oder … etwas Unbekanntem. Ich glaube, das hier ist dieses Etwas.« Ihr Kopf drehte sich mechanisch hin und her, als ob sie wieder völlig in der Gewalt der Blindheit wäre. »Es ist schwer zu erklären, und die hier wirkenden Kräfte sind sehr verwirrend für mich. Ich habe mein Augenlicht vor langer Zeit bei einem Unfall verloren. Ich war ein Kind, das als

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