Otherland 4: Meer des silbernen Lichts
versöhnt.
»Bist du wirklich ein Zigeuner?« fragte sie.
Seine Reaktion war heftig und unerwartet. »Wer hat dir so eine gemeine Verleumdung gesagt?«
Sam konnte sich gerade noch beherrschen, nicht !Xabbu anzuschauen, der sich dreißig Schritte weiter im schlammigen Flachwasser leise mit Jongleur unterhielt. »Niemand … Ich … ich dachte, du hättest sowas erzählt.« Sie hätte sich am liebsten in den Hintern getreten. »Vielleicht bin ich bloß drauf gekommen, weil … weil du so einen Schnurrbart hast.«
Er strich über die erwähnte Manneszierde, als wäre sie ein gekränktes Tier, das er tröstete. »Zigeuner, das sind Gauner und Diebe. Azador ist ein Entdecker. Du darfst es nicht falsch verstehen, wenn ich dir von meinen Abenteuern berichte. Ich bin ein Gefangener. Ich habe das Recht, meinen Kerkermeistern jedes Geheimnis und auch sonst alles abzuluchsen, was ich kann.«
»Entschuldige. Da habe ich wohl was mißverstanden.«
»Du solltest besser aufpassen.« Er fixierte sie streng. »Hier mehr als anderswo muß man vorsichtig sein mit dem, was man zu Fremden sagt.«
In diesem Punkt mußte Sam ihm recht geben.
Eine weitere Stunde fruchtlosen Forschens verstrich, ehe sich für Sam eine Gelegenheit ergab, außer Hörweite der anderen mit !Xabbu zu reden. Er war zu ihr gestoßen, um mit ihr ein letztes Rohrdickicht zu durchstöbern. Azador und Jongleur hatten aufgegeben und sich auf einen der Wiesenbuckel gesetzt, von wo aus sie ihnen zusahen.
»Ich bin so eine Scäntüte«, sagte sie, nachdem sie ihm den Vorfall erzählt hatte. »Ich hätte den Mund halten sollen.«
!Xabbu blickte besorgt. »Vielleicht machst du dir zu viele Vorwürfe, so wie ich gestern nacht. Vielleicht haben wir damit sogar etwas erfahren, auch wenn ich nicht sagen kann, was. Zum Beispiel ist es sehr merkwürdig, daß er das jetzt abstreitet. Das war fast das einzige, was er uns beim letztenmal von sich erzählte – er sei ein Zigeuner, ein Rom, wie er sich ausdrückte. Er schien sehr stolz darauf zu sein.« Der kleine Mann schob einen Vorhang schwankender Rohrkolben zur Seite, doch was aus der Ferne wie die Überreste eines Holzbauwerks ausgesehen hatte, war tatsächlich nur ein Haufen von einem Sturm entwurzelter und übereinandergeschobener Baumstämme. »Wer weiß, was er für Gründe hat, seine Vergangenheit geheimzuhalten.«
»Ich weiß nicht. Er wirkte nicht ängstlich oder nervös, wie ich es wäre, wenn jemand was über mich wüßte, was ich verheimlichen wollte. Er war einfach … wütend.« Sie sah zum Hügel hinüber. Jongleur und Azador unterhielten sich, hatte es den Anschein. Sie hatte ein ungutes Gefühl dabei. »Sieh nur, wie seelenruhig dieses alte Scheusal da oben thront! Es ist seine Schuld, daß wir niemand fragen können, wie man über den Fluß kommt.« Ob es nun wirklich Jongleurs Schuld war oder nicht, jedenfalls hatten sie keine weiteren Bewohner der Simwelt mehr erblickt, seit der alte Mann Hans Kuckeldiluff und seine Schar von ihrem Lagerfeuer verscheucht hatte.
»Schon möglich. Aber es kann auch sein, daß sie alle schon auf das andere Ufer übergesetzt sind.«
»Ja, vielleicht.« Sam runzelte die Stirn. »Was können die beiden da miteinander zu reden haben?«
!Xabbu schaute auf. »Ich weiß es nicht. Ich habe Jongleur gesagt, daß Azador gewalttätig werden könnte, wenn er entdeckt, mit wem er es in Wahrheit zu tun hat. Ich glaube daher nicht, daß er ihm irgend etwas darüber erzählt.«
Schließlich waren sie aus dem Röhricht heraus und stiegen den Hügel hinauf, doch da hatte Azador sich schon erhoben und sich ein Stück von Jongleur entfernt. Er stand mit dem Rücken zu ihnen. Als sie beinahe oben waren, drehte er sich unvermittelt um und rief: »Kommt, kommt her! Seht euch das an!«
Sam und !Xabbu liefen die letzten paar Meter.
»Da!« sagte Azador. »Seht ihr?«
»O nein!« Ein eiskalter Schauder überlief Sam. »Sie verblassen.«
Die fernen Berge waren nur noch milchige Umrisse, schwach im Sonnenschein spiegelnde Schemen, die vage die festen Formen von vorher andeuteten. Selbst Teile der ebenen Wiesenlandschaft waren schon durchsichtig wie Glas. Sam sah sich erschrocken um, doch der Fluß und seine Ufer hinter ihnen waren noch klar und deutlich, und auch der Hügel unter ihren Füßen hatte nichts von seiner beruhigenden Lebensechtheit verloren.
»Sie verschwinden«, sagte Azador. Zum erstenmal klang in seiner Stimme etwas wie echte Furcht durch. »Was hat das zu
Weitere Kostenlose Bücher