Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Titel: Otherland 4: Meer des silbernen Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
Vom Netzwerk:
bedeuten?«
    »Das bedeutet, daß uns die Zeit davonläuft«, antwortete Jongleur, der hinter ihnen herangetreten war. Seine Miene war betont ausdruckslos, aber seine Stimme war nicht ganz fest. »Die Simulation zerfällt.«
     
    !Xabbu weckte sie mit einer leichten Berührung. »Ich werde mich eine Zeitlang entfernen«, flüsterte er. »Ich denke, ich sollte dich lieber nicht mit den beiden allein lassen.«
    Sam rappelte sich schläfrig auf und stolperte hinter ihm her. Die Sterne strahlten heller denn je, als leuchteten sie in vorzeitiger Trauer um die vergehende Welt.
    Als sie die nächste Erhebung erreichten, setzte !Xabbu sich hin und schnürte sich etwas um die Fesseln, Bänder aus Schilfhalmen und Samenkapseln, die rasselten, wenn sie bewegt wurden.
    »Wozu sind die?« erkundigte sich Sam.
    »Zum Tanzen«, antwortete er. »Bitte, Sam, ich brauche jetzt Stille.«
    Zurechtgewiesen setzte sie sich neben ihn, zog die Knie an und legte das Kinn darauf ab. Der Umhang aus geflochtenen Halmen, den !Xabbu ihr gemacht hatte, bot wenig Schutz gegen Kälte, aber die Nacht war mild. Sie sah ihm zu, wie er seine Vorbereitungen beendete, dann ein paar Schritte von ihr wegging und aufgerichtet zum Himmel und seinen leuchtenden Sternen emporblickte.
    Lange blieb er so stehen. Sam nickte wieder ein, und als sie mit einem jähen Zucken wach wurde, stand er immer noch am selben Fleck, unbewegt wie eine Statue. Ihre schweifenden Gedanken hefteten sich traurig an ein Bild der Sterne über ihrem Garten zuhause, wo sie und ihr Vater einmal in Schlafsäcken draußen kampiert hatten. Trotz der nächtlichen Geräusche im Freien hatte Sam sich in der Gesellschaft ihres schweigenden Vaters und beim Anblick der Silhouette ihrer Mutter im Küchenfenster sicher gefühlt.
    Was sie wohl gerade machen? Sie können nicht die ganze Zeit bei … bei mir sein. In irgendeinem Krankenhaus. Ob sie noch andere Sachen machen? Netz gucken? Mit Freunden zu Abend essen? Selbst wenn ich hier sterbe, müssen sie irgendwann wieder ein normales Leben führen, nicht wahr? Es kam ihr ungerecht vor, unfair. Aber wäre es besser, wenn sie nie drüber hinwegkämen?
    O Gott, Mama, Papa, es tut mir so leid…!
    Langsam begann !Xabbu sich zu regen, hob einen Fuß in die Luft und schwenkte ihn hin und her wie ein Pferd, das ungeduldig den Boden scharrt. Er tat einen Schritt, hob den anderen Fuß und bewegte ihn, dann setzte er auch ihn ab. Die Rasseln ließen ein leises, trockenes Zischen hören. Nach und nach kam er in einen ausgeprägten, komplexen Rhythmus, dem die fast vollkommene Stille etwas noch Unwirklicheres verlieh.
    Anfangs beobachtete Sam ihn genau, versuchte, aus der konzentrierten Miene des kleinen Mannes darauf zu schließen, was in seinem Innern vorging, aber der Tanz zog sich zu lange hin und war zu monoton, um ihre Aufmerksamkeit auf die Dauer fesseln zu können. Als er die erste langsame Runde in einem Kreis beendete, den er allein sehen konnte, zerstreuten sich ihre Gedanken wieder. Seine exakten Bewegungen erinnerten sie an ein Spiel im Netz, das sie früher einmal, als sie noch klein gewesen war, sehr gern gemocht hatte, ungefähr zwei Wochen lang: Unregelmäßig geformte Bausteine schwebten dabei langsam durch den Raum und konnten zu immer größeren geometrischen Gebilden zusammengeschoben werden. Wie !Xabbus Tanz hatten die trudelnden Blöcke den Eindruck gemacht, schwer und leicht zugleich zu sein. Ihre verwinkelten, facettenartigen Seiten hatten sich mit der gleichen Mischung von Behutsamkeit und Bestimmtheit geküßt und aneinandergeheftet, mit der der kleine Mann seine Füße hob und absetzte, als wäre es nicht blinde, rohe Schwerkraft, was ihn an die Erde band, sondern eine überlegt getroffene Wahl.
    Ich frag mich, ob Orlando das je gespielt hat, überlegte sie schläfrig. Was er wohl daraus gemacht hätte? Bestimmt etwas anderes, soviel ist sicher. Etwas Lustiges und Trauriges.
    Ich frag mich, was !Xabbu daraus machen würde …
    Und dann trudelte sie ihrerseits davon und träumte von dunklen, hohen Bergen und einsamen Vogelschreien.
     
    »Wach auf, Sam!« Seine Stimme klang ungewohnt; im ersten Moment, noch benommen von den Träumen, dachte sie, Orlando hätte gesprochen.
    »Laß mich schlafen, du Oberscänner!«
    »Es wird hell. Wir haben heute keine Zeit, lange zu schlafen, glaube ich.«
    Sie schlug die Augen auf und sah !Xabbu über sich gebeugt, das Gesicht schweißglänzend, der Brustkasten pumpend, als wäre er soeben einen

Weitere Kostenlose Bücher