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Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Titel: Otherland 4: Meer des silbernen Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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Meter. Natürlich war sie ein kleines Mädchen, das durfte Renie auf keinen Fall vergessen, aber trotzdem … »Schaffst du es nicht noch das kleine Stück? Wenn wir auf dem Dach sind, siehst du den Boden da unten nicht mehr.«
    »Nein, das mein ich nicht!« Sie weinte fast vor Erbitterung über soviel Begriffsstutzigkeit. »Die Liane ist zu hoch!«
    Die Tecks schienen sich unter ihnen zu sammeln. Abgelenkt von ihrem Gewimmel dauerte es einen Moment, bis Renie sah, daß das Kind recht hatte. Die höhere der beiden Lianen, die sie als Brücke benutzten, führte die ganze Zeit schon steiler nach oben als die untere. Das Steinmädchen hatte seine Arme bis zum äußersten gestreckt, um weiter festzuhalten, aber beim nächsten Schritt würde es nicht mehr hinkommen.
    »O Mensch, tut mir leid! Ich bin wirklich zu doof.« Renie kämpfte gegen die Panik an. Die Tecks wuselten jetzt zu ihren Füßen übereinander wie Würmer in einem Eimer. »Ich komm ein Stück näher und helf dir.« Sie schob sich vor, nahm einen Arm von der oberen Liane und legte ihn um das kleine Mädchen. »Kannst du dich an meinem Bein festhalten? Oder dich vielleicht sogar auf meinen Fuß stellen?«
    Das Steinmädchen, das bis dahin trotz seiner Angst Ruhe bewahrt hatte, brach jetzt in Tränen aus. Mit etwas Nachhelfen schlang es die Arme um Renies Schenkel und nahm ihr Fesselgelenk mit den Füßen in die Zange – eine verkrampfte und leicht affenartige Haltung, aber auf die Weise konnte Renie sich vorsichtig Stück für Stück weiterhangeln. Dennoch dauerte es noch einmal eine ganze Weile, bis sie sich endlich auf das weiche, sichere Dach plumpsen ließen, und das letzte Tageslicht war fort.
    »Wo ist der Mond?« fragte Renie, als sie wieder Atem schöpfen konnte.
    Das Steinmädchen schüttelte traurig den Kopf. »Ich glaube, in Holla Buschuschusch gibt’s keinen Mond mehr.«
    »Dann muß es das Sternenlicht tun.« Klingt wie ein Schlagertitel, fand Renie. Schon nach dem ersten Teil der anstrengenden Kletterpartie über den Köpfen der Tecks war ihr vor Erschöpfung ganz schwindlig. Sie setzte sich auf. Das Licht war minimal, doch es reichte aus, um die Silhouette des Turms und sogar einen schwachen Schein in der Glockenstube zu erkennen. Ihr Herz tat einen Sprung. Konnte das !Xabbu sein? Sie hätte ihm am liebsten zugerufen, war aber mittlerweile sehr viel weniger von der Taubheit der Tecks überzeugt.
    »Wir müssen weiter«, erklärte sie. »Wenn wir noch länger warten, krieg ich einen Krampf. Komm!«
    »Aber ich komm doch nicht hin!« Das Steinmädchen war schon wieder nahe daran zu weinen.
    Eine kurze gereizte Aufwallung legte sich sofort. Mein Gott, was mute ich dem Kind eigentlich zu? Das arme kleine Ding! »Ich werde dich auf den Rücken nehmen. Du bist klein.«
    »Ich bin das größte Kind in meinem Haus«, entgegnete es mit einem Anflug von gekränktem Stolz.
    »Ja, und du bist sehr tapfer.« Renie ging in die Hocke. »Steig auf.«
    Das Steinmädchen hängte sich an Renies Rücken und wurde von dort auf die Schultern gehievt, so daß seine kühlen, stämmigen Beinchen links und rechts von ihrem Hals hingen. Renie erhob sich und schwankte ein wenig, fand aber das Gewicht des Mädchens erträglich.
    »Jetzt kommt der letzte Teil«, sagte sie. »Halt dich gut fest. Ich werde meinen Freunden erzählen, wie sehr du mir geholfen hast.«
    »Das hab ich«, flüsterte das Steinmädchen, während sie sich zusammen wieder auf die Lianen hinausbegaben. Glücklicherweise hing die untere ein bißchen tiefer als die Dachkante, so daß Renie einfach mit einem Schritt darauf treten konnte und nicht mit dem klammernden Kind auf dem Rücken hinaufsteigen mußte. »Ich hab dir echt geholfen. Bei den Schnören, weißt du noch? Da hab ich dir das Versteck gezeigt, stimmt’s?«
    »Aber sicher stimmt das.«
    Der letzte Teil des Seilakts war der schwerste, und nicht nur, weil Renie durch das Gewicht des Mädchens zusätzlich belastet und behindert war. Ihre Muskeln, die sich schon zu lange nicht mehr wirklich hatten erholen können, waren überstrapaziert, und ihre Sehnen waren straff gespannt wie Klaviersaiten. Wenn die bohrende Angst nicht gewesen wäre, daß ihnen die Zeit weglief, daß der Andere jeden Moment die Gegenwehr aufgeben und sich dann die ganze Welt um sie herum in Nichts auflösen konnte, wäre Renie vielleicht wieder umgekehrt und hätte sich auf dem Dach schlafen gelegt, obwohl ihre Freunde möglicherweise nur noch einen Steinwurf entfernt

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