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Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Titel: Otherland 4: Meer des silbernen Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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starrender Augen …
    »Jetzt, Jonas, ist es, glaube ich, soweit, daß du mir alles erzählst, was du über unsern Freund Jongleur weißt.« Das gelbe Gesicht des Gottes erschien wieder zwischen den treibenden Schatten vor Pauls Blickfeld. »Sag mir, was geschehen ist…«
     
»Gebt mir Macht über seine Zunge, daß ich sie zu einer
    Peitsche mache, die Feinde der Götter damit zu züchtigen!«
     
    ließ sich der Priester vernehmen, und in sein monotones Rezitativ trat ein triumphierender Ton,
     
»Gebt mir Macht über seine Zunge, daß er seine Geheimnisse nicht mehr verbergen kann!
    Macht mich zum Eröffner seines Schweigens!
    Macht mich zum Priester seines verborgenen Herzens!
    Sprich jetzt!
    Sprich jetzt!
    Sprich jetzt!
    Die Götter befehlen es…!«
     
    »Ich … weiß … nicht …« Die Stimme des Priesters klang ihm wie Donner in den Ohren, war so laut, daß er keinen Gedanken fassen konnte. Bilder wirbelten an ihm vorbei, Bruchstücke aus seinem Leben im Turm, Avas traurige dunkle Augen, der Geruch nasser Pflanzen. Seine eigenen Worte hallten in ihm und um ihn herum nach. »Ich bin … ich bin …« Er sah sich selbst, sah alles, und die Vergangenheit platzte auf wie zerreißendes Fleisch, schmerzhaft, entsetzlich schmerzhaft, und die Erinnerungen stürzten heraus.
    Die Finsternis verfloß, und er sank tiefer und tiefer. Er hörte seine eigenen Worte wie aus großer Ferne.
    »Ich bin … eine Waise …«

Kapitel
Steinernes Bollwerk
    NETFEED/MUSIK:
    Horrible Animals vor der Wiedervereinigung?
    (Bild: die Benchlows betreten das Krankenhaus zur Voruntersuchung)
    Off-Stimme: Selbst die eingefleischtesten Fans geben zu, daß die Geschichte von Saskia und Martinus Benchlow, Gründungsmitglieder von My Family and Other Horrible Horrible Animals, mittlerweile bizarre Züge annimmt. Denn die einstigen siamesischen Zwillinge, die sich erst vor wenigen Monaten operativ trennen ließen, um ungehindert ihre eigenen musikalischen Wege gehen zu können, denken über eine Wiederverbindung nach.
    S. Benchlow: »Trotz der Trennung hängen wir ständig zusammen und zanken uns rum. Mein neuer Manager meinte: ’Was geht denn bei euch ab? Es ist, als wärt ihr an der Hüfte zusammengewachsen.’ Na ja, da sind wir ein bißchen nachdenklich geworden …«
    M. Benchlow: »Die ganze Trennung ist voll para. Ich hätt nie gedacht, daß man sich auf dem Klo so einsam fühlen kann.«
     
     
    > Aus einem merkwürdigen Wiederholungszwang heraus sagte er es noch einmal. Die Schwärze vor den Augen hatte sich fast verzogen, aber seine Stimme hallte immer noch merkwürdig fern, als stände er unbeteiligt dabei und hörte zu. »Ich bin eine Waise …!«
    »Tut mir leid, daß du’s auf diesem Wege erfahren mußt, Paul.« Niles hörte sich ehrlich bekümmert an, aber sein Gesicht auf dem Bildschirm war undurchschaubar taktvoll wie immer. »Aus irgendeinem Grund konnte das Krankenhaus dich da in den Staaten nicht erreichen, deshalb haben sie mich angerufen. Ich nehme an, du hast meine Nummer für Notfälle irgendwo angegeben oder so.«
    »Ich … ich bin eine Waise«, sagte Paul zum drittenmal.
    »Na, das ist wohl ein bißchen übertrieben.« Niles’ Ton war freundlich. »Ich denke, als Waise gilt man nur, wenn man noch ein Kind ist, meinst du nicht auch? Jedenfalls mein herzliches Beileid, Paul. Immerhin hat sie’s nicht schlecht gehabt alles in allem, was? Wie alt war sie?«
    »Zweiundsiebzig.« Er war jetzt über ein halbes Jahr in Amerika, ging ihm auf. »Dreiundsiebzig. Das ist noch gar nicht so alt. Ich dachte … ich dachte, sie würde noch ein paar Jahre leben.« Ich dachte, ich würde sie wiedersehen. Wie konnte ich sie allein sterben lassen?
    »Na ja, gesundheitlich war sie nicht obenauf. Noch das beste für sie, nicht?«
    Einen Moment lang verabscheute Paul das adrette Gesicht und billige Mitgefühl seines Freundes. Das beste für sie? Ja, wenn man aus einer Familie stammt, die ihre alten Hunde und Pferde erschießt, kommt einem das wahrscheinlich so vor. Aber gleich darauf war die Bitterkeit wieder verflogen.
    »Ja, vermutlich«, sagte er bedrückt. »Ich sollte wohl anrufen und regeln, was da zu regeln ist…«
    »Hab ich schon alles erledigt, Amigo. Kein Problem bei den genauen Anweisungen, die sie hinterlassen hat. Soll ich die Asche überführen lassen?«
    Die Vorstellung war so abstrus in ihrer Widerwärtigkeit, daß Paul sie tatsächlich einen Augenblick in Erwägung zog. »Nein. Nein, ich glaube nicht. Ich glaube

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