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Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Titel: Otherland 4: Meer des silbernen Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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verletzt und traumatisiert, aber immerhin am Leben, immerhin bei Verstand. Ich habe ihm das Blut abgewaschen und seine vielen Wunden verbunden, so gut ich es konnte, und im Augenblick schläft er zu meinen Füßen. Nandi und Bonnie Mae haben die Folter ebenfalls überlebt, aber auf beiden liegt ein Schatten. Die virtuellen Galeerensklaven rudern derweil die Barke des Osiris stromaufwärts wie eine Maschine, der es gleichgültig ist, wer sie bedient – stromaufwärts zum Tempel des Seth.
    Ich hätte auch ohne Bes gewußt, wie gefährlich unser Unterfangen ist. Orlando und Fredericks wurden einmal von diesem Tempel angezogen und hineingesaugt wie Blätter in einen Strudel, und Orlando meinte, sie seien nur knapp mit dem Leben davongekommen. Dennoch habe ich ein wenig Zuversicht gefaßt, auch wenn das dumm sein mag.
    Wir leben noch, gegen jede Wahrscheinlichkeit. Und wir sind Dread praktisch durch die Finger geschlüpft, wenigstens fürs erste. In mir tanzt und jubiliert es wie ein Kind, das nach einem langen, langweiligen Tag im Haus endlich in den Garten darf. Ich lebe! Nichts ist wichtiger als das. Es ist alles, was ich habe. Im Augenblick ist es genug.
    Wenn ich sehe, wie Paul im Schlaf zittert, erinnert mich das an Robert Wells, nachdem Javier ihm seine verrückte leuchtende Hand in den Hinterkopf steckte und ihn, der in dieser ägyptischen Simwelt ein großer Gott ist, damit zu Boden warf wie einen geschlachteten Ochsen. Ich frage mich, was das alles zu bedeuten hat. Ist es purer Zufall, daß wir schon wieder gerettet wurden? Wir sind im Banne eines Betriebssystems, das mit Geschichten, mit Märchen gefüttert wurde, da könnte es sein, daß die vielen Zufälle in einem tieferen Zusammenhang stehen. Vielleicht hat T4b diese merkwürdige Verletzung eigens zu unserer Rettung bekommen, vielleicht gehört das mit zur Geschichte des Netzwerks. Aber das erklärt noch nicht die vielen eigenartigen Glücksfälle. Ich bin aus freien Stücken hierhergekommen, um Renie Sulaweyo bei der Suche nach ihrem Bruder zu helfen, völlig ahnungslos, daß es irgendeinen Zusammenhang mit dem lange vergangenen Tag geben könnte, an dem ich mein Augenlicht verlor. Wie könnte es so ein unglaubliches zufälliges Zusammentreffen geben?
    Es sei denn, daß Geschichten eine viel weitreichendere Bedeutung haben, als uns unmittelbar einsichtig ist.
    Sind Geschichten nicht das Mittel, mit denen wir Menschen die Welt gestalten, ja die Zeit selbst? Machen wir es nicht genauso wie in den einfachsten und tiefgründigsten Märchen, daß wir den Rohstoff des Chaos nehmen und darin einen Anfang, eine Mitte und ein Ende setzen, um so unser eigenes kleines Leben zu spiegeln? Und wenn die Physiker recht haben, daß sich die materielle Welt mit der Beobachtung verändert und daß wir ihre einzigen bekannten Beobachter sind, kann es dann nicht sein, daß wir das gesamte chaotische Universum, das ewige, rastlos tätige Jetzt, in diese vertraute Form zu bringen suchen?
    Wenn ja, dann hat das Universum, vom feinsten Quantenstaub bis hin zu den gewaltigsten leeren Räumen, in der Tat die Gestalt einer Geschichte. Sie beginnt: ›Es war einmal …‹
    Und wenn das stimmt, dann können nur wir Menschen, arme, nackte Halbaffen, die im trüben Licht dieses kleinen Sternes am Rand einer unbedeutenden Galaxie dahinvegetieren, das letzte Wort darüber sprechen, ob es am Schluß heißen wird: ›Und sie lebten vergnügt bis an ihr seliges Ende.‹
    Mir wird ganz schwindlig bei diesen Gedanken. Es ist eine zu kolossale und außerordentliche Möglichkeit, als daß ich sie lange fassen könnte, vor allem jetzt, wo wir noch in solcher Gefahr schweben.
    Das Schiff des Osiris schaukelt unter mir. Es durchschneidet die träge Strömung, während die knarrenden Ruder einen unmenschlich gleichmäßigen Takt schlagen. Wir fahren den Nil hinauf zum finstersten Ort in dieser Welt, vielleicht in all diesen Welten. Ich bin sehr müde. Ich denke, ich werde mich eine Weile schlafen legen.
    Code Delphi. Hier aufhören.«
     
     
    > Dread schwebte in den weißen Weiten seines spartanisch kargen Outback-Schlosses. Das zum Torweg hereintönende Jaulen eines Dingos bildete einen unheimlichen, aber eindrucksvollen Kontrapunkt zu der in der Luft zitternden Klaviermelodie. Dread dämpfte das Licht und ließ es über der wüsten Landschaft Abend werden, damit er die Übersicht besser erkennen konnte, die Dulcy Anwin für ihn erstellt hatte.
    Unwillig runzelte er die Stirn; er hätte lieber

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