Otherland 4: Meer des silbernen Lichts
seinen Tagträumen nachgehangen, als trockene Studien zu treiben. Die Übersicht war ein bodenloses Faß voller Tabellen, dreidimensionaler Schaubilder und Vermögensaufstellungen, eine ordentliche Zusammenfassung der unendlich weitgestreuten Besitztümer und Beteiligungen von Felix Jongleur. Aus jedem Punkt schoß ein Wald von Markern hervor, die Informationen über Zugriff und Verbindung enthielten, und eine Zeitlang erging er sich in Phantasien, wie jeder Subkonzern, jede Holdinggesellschaft und jede Aktienmehrheit sich als Werkzeug der Vernichtung einsetzen ließe.
Er lauschte entzückt den atonalen Sprüngen des einsamen Klaviers. Ich könnte eine richtige Symphonie daraus machen, dachte er. Ein Wirtschaftskrach hier, eine Seuche dort, so daß selbst die Reichen ihr Fett abkriegen. Krieg, Hunger, sämtliche apokalyptischen Reiter, einer nach dem andern. Wie der Dritte Weltkrieg, nur in Zeitlupe. Auf die Weise kann man ihn besser genießen.
Natürlich muß ich aufpassen, daß mir die Sache nicht aus der Hand gleitet. Schließlich will ich nicht, daß mir was passiert, nicht wahr?
Aber bevor der Spaß richtig losgehen konnte, mußte er noch die letzten Vorkehrungen treffen. Es war eine Sache, an Felix Jongleurs geheime Daten heranzukommen, aber eine ganz andere, die wilden Kunstprojekte zu realisieren, die Dread im Augenblick vorschwebten. Zweifellos würde Jongleurs Abwesenheit irgendwann seine offizielle Todeserklärung zur Folge haben, und dann würden seine diversen Verwaltungsräte und designierten Nachfolger mit Heerscharen von Revisoren und Datenanalysten auf den Plan treten. Bevor es soweit kam, mußte er alles unter Dach und Fach haben und Herr über sämtliche Finanzen und Verbindungen sein, die er brauchte.
War er dafür auf Dulcy angewiesen? Nein. Ihre Brauchbarkeit hatte sich erschöpft. Nicht nur das, sie wußte viel zuviel. Ein, zwei Tage noch konnte sie ihm bei dem komplizierten Machttransfer behilflich sein, dann war ihr Australienurlaub beendet. Er war zu dem Schluß gekommen, daß er die nötige unverdächtige Lösung doch mit ein bißchen Vergnügen in eigener Sache verbinden konnte. Wen würde es schon wundern, wenn eine amerikanische Touristin in einem der anrüchigeren Viertel von Sydney ausgeraubt und ermordet aufgefunden wurde?
Zum Klavier gesellte sich abermals ein anderer Ton, diesmal nicht das Kläffen eines Wildhundes, sondern das leise Piepen einer dringlichen Mitteilung. Dread wollte es erst ignorieren, doch er wußte, daß es Dulcy sein konnte. Da ihre gemeinsame Zeit dem Ende zuging, wollte er noch das Maximum an Arbeit aus ihr herausholen. Ein guter Manager nutzte jedes Produktionsmittel bis zum letzten aus.
Zu seiner Überraschung war der Anruf auf einer Leitung, die er noch nie benutzt hatte. Der Kopf, der das Sichtfenster füllte, war kahlgeschoren, die Gewänder grauschwarz mit Ruß besudelt.
»O Herr über alles!« Der Priester stotterte vor Hast und Panik. »Unglück ist über uns hereingebrochen, o großes Haus. Deine Diener sind verzweifelt, das ganze Schwarze Land ist in Schrecken!«
Dread wunderte sich. Das war einer der virtuellen Priester des Alten Mannes. Der Anruf war über Jongleurs Verbindung zum Gralsnetzwerk direkt zu ihm durchgestellt worden, genau als ob der Lakai aus der wirklichen Welt statt aus einem imaginären Ägypten angerufen hätte.
»Was willst du?«
»O gepriesener Anubis, Herr der letzten Fahrt, im großen Abydos brennt es! Viele Priester sind tot, viele andere liegen mit schweren Verbrennungen im Sterben!«
Ein ziemlich kurioser Gedanke, gerade ihn deswegen anzurufen, fand Dread, da er vor noch nicht vierundzwanzig Stunden höchstpersönlich im Tempelkomplex von Abydos-Olim Priester gefoltert und umgebracht hatte. »Und?«
Das rußbeschmierte Gesicht wurde noch grauer. Der Mund des Mannes bewegte sich, doch einen Moment lang kam kein Ton heraus. »Und die Gefangenen des großes Gottes sind entflohen.«
»Was?« Er verengte die Augen. »Ihr habt diese Schwachköpfe vom Kreis entkommen lassen? Alle beide?«
Der Priester schluckte. Die nächsten Worte brachte er nur flüsternd über die Lippen. »Alle. Alle Gefangenen des großes Gottes.«
»Was soll das jetzt schon wieder heißen?« Er hörte, wie seine Stimme zornig anschwoll, als ob er in Wahrheit der Gott wäre, den der Priester vor sich sehen mußte. »Rühr dich nicht von der Stelle!«
Ein kurzer Gedanke genügte, und er war in Ägypten.
Wells hockte geduckt auf dem Boden
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