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Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Titel: Otherland 4: Meer des silbernen Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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Florimel.
    »Tot«, setzte Nandi langsam hinzu. »Wie ein zähnefletschender Totenschädel.«
     
    Der Tempel sah nicht nur leer aus, sondern war auch halb unter Wanderdünen begraben, ein vergessener Ort, wo seit langem niemand mehr gewesen war. Aufgewirbelt von einer Brise, die sie alle nicht spürten, verschleierten glitzernde graue Sandwolken den Bau noch zusätzlich, so daß seine vollen Ausmaße nicht zu erkennen waren.
    Das leise Platschen der Ruder verstummte. Während das Schiff gemächlich an den Kai trieb und anlegte, starrten Paul und seine Gefährten den unheimlichen Tempel an, dessen windgepeitschte Front hoch wie ein Bürogebäude und mehrere Häuserblocks breit war. Nirgends am Ufer war ein Geräusch zu hören.
    »Will nicht da rein«, sagte T4b schließlich.
    »Wir müssen«, erklärte Martine sanft, aber bestimmt. Falls sie den Streit über seine heimliche Kreismitgliedschaft verfolgt hatte, war der Junge anscheinend dadurch nicht in ihrer Achtung gesunken. »Dread wird uns suchen kommen, er kann jeden Moment hier sein. Er wird sich nicht überlisten oder besiegen lassen wie Wells. Und er wird sehr wütend sein.«
    T4b sagte nichts mehr, doch als die anderen zum Laufsteg traten, schloß er sich ihnen an, als würde er zur Hinrichtung geführt. Die Kinder der Bösen Bande hingen an seinen, Pauls und Florimels Sachen wie schlafende Fledermäuse und benahmen sich vor Angst ausnahmsweise einmal manierlich.
    »Nich so schlimm diesmal«, flüsterte eines Paul ins Ohr, doch die Kinderstimme klang nicht völlig überzeugt. »Schläft fester. Vielleicht merks nich, daß wir da sind.«
    Trotz Martines antreibender Worte konnte Paul sich nicht dazu aufraffen, schneller als im Schleichtempo durch die heiße, sonnengleißende Wüste zu tappen. Der wehende Sand biß ihm ins Gesicht. Die hochragende Säulenreihe sah aus, als wollte sie ihn verschlingen. Selbst die Luft war schwer, glich einer festen, zähen Masse, durch die sie sich kämpfen mußten. Hinter ihm gab Florimel ein ersticktes Röcheln von sich, denn die Furcht schnürte ihr die Kehle zu, und sie bekam kaum noch Luft.
    Die glühende Hitze ließ nur wenig nach, als sie zwischen die zyklopischen Säulen in den Schatten traten. Die lange Mauer vor ihnen war über und über mit kunstvoll gearbeiteten Relieffeldern bedeckt, die aber im Laufe der Zeit verwittert waren und nur noch ein sinnloses und beklemmendes Gekrakel erkennen ließen. Der einzige Eingang war ein schlichtes schwarzes Quadrat in der Mitte der mächtigen Mauer, ein Loch in ein tieferes Dunkel.
    Martine ging als erste hinein. Trotz der drückenden, geradezu erwartungsvollen Stille des Ortes hielt sie sich die Ohren zu – ganz als ob direkt neben ihr jemand schrie, dachte Paul, während er ihr zusammen mit den anderen folgte.
    Als die Augen sich langsam an die Dunkelheit im Innern gewöhnten, die nur das Licht vom Eingang geringfügig aufhellte, sah Paul überall weißgewandete Körper liegen, insgesamt vielleicht fünfundzwanzig. Keiner regte sich; alle schienen unter Qualen gestorben zu sein. Er wandte sich schaudernd von der am nächsten liegenden Leiche ab: die Finger am rauhen Steinboden blutig gekratzt, die Augen verdreht wie Ausschau haltend nach einer Rettung, die nicht gekommen war.
    »Das sind keine Replikanten«, sagte Nandi leise. Paul sah ihn verwundert an. »Es sind leere Sims«, erläuterte der dunkelhäutige Mann. »Schau, sie sind nicht verwest oder irgendwie verändert, lediglich erstarrt. Hier sind lebendige Menschen gestorben oder offline gegangen und haben ihre Sims zurückgelassen.«
    Martine war vor einem gewaltigen Tor in der Innenwand stehengeblieben, das bis zur Decke aufragte und dessen beide Flügel mit gehämmerter Bronze verkleidet waren. Angesichts seiner schieren Größe rutschte Paul fast das Herz in die Hose.
    Ich will gar nicht sehen, was dahinter ist…
    Eine Berührung an seinem Arm ließ ihn zusammenfahren.
    »Hab nicht gelogen, äi«, sagte T4b leise. Paul war erstaunt, daß es dem jungen Burschen in dieser unheilschwangeren Atmosphäre keine Ruhe ließ, was andere von ihm dachten.
    »Ich glaube dir, Javier.«
    »Tut … tut mir leid … daß ich dich exen wollt.« Er sprach so leise, daß Paul ihn nicht gleich verstand. »Auf dem Berg da.«
    »Oh! Ach so, das! Das ist längst vergeben und vergessen.«
    »Weil, das Mädchen, Emily, die war chizz. Auf die hab ich echt geopt. Satt.« Anscheinend wollte er unbedingt, daß Paul ihn begriff. »Als dann der

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