Otherland 4: Meer des silbernen Lichts
kleinen Königin.« Ein Gedanke regte sich in ihm. »Und die Pankies waren auf der Suche nach ihrer eingebildeten Tochter.«
»Eine Gemeinsamkeit in beiden Versionen, kein Zweifel«, sagte Nandi. »Martine hat mir erzählt, daß du die Originale kennst.«
Paul war ein wenig unwohl bei der Vorstellung, daß Leute sich hinter seinem Rücken über seine häßlichen Geheimnisse unterhielten, sein lückenhaft erinnertes Leben. Es war sein Leben und ging niemanden etwas an!
Aber das Geheimnis betrifft alle, wies er sich selbst zurecht. Alle hier sind in großer Gefahr.
»Ja, stimmt, aber ich kann mich noch immer nicht an alles erinnern.« Da war er wieder, dieser Schatten am äußersten Rand seines Gedächtnisses, eine verschwommene Wahrnehmung von etwas, das er nicht genauer wissen wollte. »Aber wieso sollten sich verschiedene Versionen verschieden verhalten? Wieso sind welche hinter mir her wie besessen, und andern bin ich völlig egal?« Wieder sah er die venezianischen Katakomben vor sich, die Konfrontation der beiden spiegelbildlichen Paare im Beisein von ihm, dem armen Gally und der gespenstischen Eleanora.
»Vielleicht sind sie schlicht unterschiedlich programmiert.« Nandi sah offenbar keinen großen Sinn darin, Spekulationen anzustellen, doch Paul suchte sich an etwas anderes zu erinnern, etwas, das Eleanora ihm gesagt hatte, oder gezeigt …
»Mein Gott«, sagte er plötzlich, »es sind wirklich bloß Kopien.« Er setzte sich kerzengerade hin, ohne auf den scharfen Schmerz über den Rippen zu achten. »Eleanora – eine reale Frau, die in der venezianischen Simwelt lebte –, sie zeigte mir ihren ehemaligen Geliebten, einen Mafioso, der diese Welt für sie gebaut hatte. Er war tot, aber die Gralsleute hatten zu seinen Lebzeiten eine Kopie von ihm gemacht. Ich glaube, das war eine Vorform des Gralsprozesses. Er wirkte real – er konnte Fragen beantworten –, aber er war in einer Art Informationsschleife, vergaß ständig, was man ihn gefragt hatte, wiederholte immer wieder dieselben Sachen. Könnte es nicht sein, daß die Pankies und die andern Versionen der Zwillinge etwas Ähnliches sind?«
»Du blutest«, sagte Nandi sanft.
Paul sah an sich herab. Durch seine ruckartige Bewegung waren die Schnittwunden auf seiner Brust aufgeplatzt, und das austretende Blut sickerte durch den schmutzigen Jumpsuit.
»Jonas, was machst du?« Florimel eilte auf ihn zu. »Martine, er blutet wieder.«
»Sie kann dich nicht hören«, bemerkte Nandi. »Sie ist vorne im Bug.«
»Hilf mir, ihn zu säubern.«
»Laß nur, das geht schon.« Doch Paul sträubte sich nicht, als Florimel seinen Jumpsuit vorne öffnete und sich leise schimpfend an den durchgeweichten Stoffstreifen zu schaffen machte, mit denen Martine ihn verbunden hatte.
»T4b?« rief sie. »Wo bist du? Besorg mir irgendwas, das ich als Verband benutzen kann. T4b?« Sie bekam keine Antwort. »Verdammt, Javier, wo bist du?«
»Javier?« fragte Nandi, während er Florimel half, Paul bis zur Taille aus seinem Anzug zu pellen.
Paul ärgerte sich – seine Wunden waren nicht lebensgefährlich, und der Gedanke, der in seinem Kopf arbeitete, kam ihm wichtig vor. Viele Kopien, einige weniger vollkommen als andere …
Ich bin ein zersprungener Spiegel, hatte sie zu ihm gesagt. Ein zersprungener Spiegel…
»Du hast dir ja Zeit gelassen, Javier«, raunzte Florimel den jungen Burschen an, als er schließlich erschien. »Hast du noch Stoff gefunden?«
»Gibt keinen.« Er warf Nandi einen Blick zu, als wäre der ihm unangenehmer als Florimels Ärger.
»Javier … Javier Rogers?« fragte Nandi.
»Nein!« stieß T4b schroff hervor, dann wurde er steif und starrte seine Füße an. »Yeah.«
»Ihr kennt euch?« Florimel blickte von einem zum anderen.
»Ich denke schon«, antwortete Nandi. »Der Kreis ist dafür verantwortlich, daß Javier hier ist.«
Florimel wandte sich T4b zu. »Stimmt das?«
»Oh, Fen-fen«, sagte er niedergeschlagen.
So wie sie alle um den Jungen herumstanden, mußte Paul unwillkürlich an eine Inquisitionsszene denken. Aber T4b, dem die Peinlichkeit quer über sein schweißnasses Teenagergesicht geschrieben stand, gab keinen sehr überzeugenden Märtyrer ab.
»Worüber hast du uns sonst noch belogen?« wollte Florimel wissen.
»Gar nicht gelogen, äi«, wehrte sich T4b. »Bin kein Dupper. Hab bloß nix gesagt, tick?«
»Du mußt dich nicht für deinen Glauben rechtfertigen, mein Junge«, versicherte ihm Bonnie Mae.
»Er hat euch keine
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