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Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Titel: Otherland 4: Meer des silbernen Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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zugeben, daß die Phantasien von verlorenen Kindern und weltweiten Verschwörungen ziemlich weit hergeholt waren – und Olga war ein vernünftiger Mensch.
    Kann man gleichzeitig vernünftig und geisteskrank sein? überlegte sie. Das wäre allerdings ein psychologisch höchst ungewöhnlicher Fall.
    Als sie sich so gut es ging überzeugt hatte, daß der Flur leer war, stieg sie die Treppe vom Zwischengeschoß in das riesige Foyer mit der pyramidenförmigen Decke hinab. Sie hatte zwar mehrere Leute von einer Fahrstuhlzeile zur anderen wechseln sehen, doch im Augenblick war es leer und machte genauso einen verbotenen Eindruck, wie ihn nur ein geschlossenes öffentliches Gebäude machen konnte. Während sie hastig über den schwarzen Marmorboden zur Hauptempfangstheke ging, kam ihr das Echo ihrer Schritte laut wie Geschützfeuer vor. An der Rezeption spielte sie für die verborgenen Kameras das nervöse Huhn, das »zufällig« eine eckige Blumenvase über die Theke kippte, so daß das Wasser und die vor sich hinwelkenden Schwertlilien vom Freitagmorgen auf den Boden platschten. Sie tat so, als hätte sie nichts gemerkt, und begab sich schleunigst in die relative Sicherheit des Zwischengeschosses zurück.
    Von einem sicheren Platz aus, im Schutz eines Hains von Zierbäumen in Töpfen, beobachtete sie voller Unruhe, wie hin und wieder ein einsamer Beschäftigter durch die kleine Personaltür im Haupteingang kam, um am Wochenende irgend etwas nachzuarbeiten, oder von einem Teil des Gebäudes zum anderen durch das Foyer spazierte. Mehrere schienen die Pfütze und die hingefallenen Blumen vor der Theke zu bemerken, doch falls jemand von ihnen eine Meldung deswegen machte, tat er oder sie das per Telematik. Olga konnte sich dessen nicht sicher sein.
    Eine Stunde verging. Zwischen zwanzig und dreißig Mitarbeiter waren mittlerweile durchs Foyer getrabt, doch noch immer hatte sich niemand der umgekippten Vase erbarmt. Die riesige Uhr an der Wand, ein goldenes Rechteck von der Größe eines Lieferwagens mit ägyptischen Figuren und Zeichen, zeigte kurz nach acht an. Samstag abend, ihre Zeit war halb um, und nichts war geschehen. Olga war immer ein geduldiger Mensch gewesen, aber jetzt fühlte sie sich wie ein dünner Faden, der bis zum Zerreißen gespannt war und bei jedem Windhauch zitterte. Sie hatte schon fast den Entschluß gefaßt, daß sie sich allen Risiken zum Trotz aufmachen wollte, die unteren Geschosse zu durchsuchen, als eine schlaksige Gestalt aus einem Servicefahrstuhl kam und durchs Foyer schlurfte, einen Plastikeimer auf Rädern vor sich herschiebend und einen Mop geschultert wie ein Gewehr.
    Erleichtert stieß Olga einen tiefen Seufzer aus. Sie beobachtete, wie der Servicearbeiter mit langsamen, bedächtigen Bewegungen die Schwertlilien vom Boden aufklaubte und dann den Mop von der Schulter nahm. Als sie sicher war, daß sie sich nicht irrte – wer konnte schon wissen, wie viele Raumpfleger hier am Wochenende arbeiten? –, begab sie sich eilig zum Aufzug und stieg ein. Gleich darauf wurde er auf die Foyerebene geholt. Sie gab sich alle Mühe, überrascht zu wirken, als er zustieg.
    »Na, sag mal, Jerome, hallo!« begrüßte sie ihn, als er mit seinem Eimer über die winzige Lücke zwischen Fahrstuhl und Tür holperte. Sie schenkte ihm ihr sonnigstes Lächeln. »Was machst du denn hier oben?«
     
    »Kann schon sein, daß ein Aufzug durchfährt, Ol-ga.« Seine Stimme war sanft, doch das Thema war ihm sichtlich unangenehm. »Aber das ist ganz egal, diese Etagen sind alle verboten. Ich komm da nur hoch, wenn die Wachleute wollen, daß ich was umsetzen helfe oder so.« Grübelnd saß er da, den Mund aufgesperrt und die milchigen Augen fast geschlossen, und hatte das angebissene Brot, das er in die Luft hielt, ganz vergessen.
    Olga zwang sich, von dem Leberwurstbrot abzubeißen, das er ihr aufgenötigt hatte. Da sie sich gegen den offiziellen Pausenraum ausgesprochen und ihn statt dessen überredet hatte, mit ihr im Lagerraum Brotzeit zu machen, wo sie sich allmählich richtig zuhause fühlte, wäre es undiplomatisch gewesen, das angebotene Brot auszuschlagen, obwohl die Leberwurst sie mit höchst gemischten Gefühlen erfüllte. »Dann … dann warst du also schon mal auf den Etagen?«
    »Na klar. Oft. Aber nur bis zum Wachzentrum.« Er runzelte abermals die Stirn. »Einmal auch im Raum drüber, wo diese ganzen Apparate stehen. Einer der Bosse war wütend, weil da Mausdreck rumlag, und den wollte er mir zeigen. Aber

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