Otherland 4: Meer des silbernen Lichts
Schwerter und Lanzen und komplette Rüstungen, Edelsteine so groß wie Catur Ramseys virtuelle Faust, mächtige Totenschädel von Tieren, die Gott sei Dank niemals in der wirklichen Welt gelebt haben konnten, selbst ein Geländer, das aus einer riesigen, erstarrten Schlange bestand, deren Kopf halb so lang war wie Ramsey hoch. An den wenigen Stellen, wo zwischen den windschiefen Stapeln von Erinnerungsstücken die Wände durchblickten, waren zwei Szenen zu sehen, denen Ramsey nur an ihrer vollkommenen Verschiedenheit anmerkte, daß es Displays waren und nicht die simulierte Außenwelt vor Orlando Gardiners elektronischem Wohnsitz im Inneren Distrikt.
Bei dem Sumpf aus der Kreidezeit, wo gerade eine Hadrosauriermutter einen schlanken Dromeosaurus verscheuchte, der zwei halbherzige Angriffe auf ihre Eier unternommen hatte, war es ziemlich einleuchtend, daß ein Junge sich für so etwas interessierte; die andere Szene dagegen, eine ungeheuer weite, leblose Landschaft aus rotem Staub, wirkte ein wenig weiter hergeholt.
Alles in allem war es ein Teenagerzimmer in einer Umgebung ohne Grenzen, und die Dinge waren die stolzen Besitztümer eines Jungen, der nie wieder zu ihnen zurückkehren würde. Ramsey mußte an den kindlichen König Tutanchamun denken, dessen Grab voll persönlicher Schätze Jahrtausende nach seinem Tod geöffnet und aller Welt vorgeführt worden war. Würde Orlandos Zimmer einfach im Netz fortbestehen? Er vermutete, daß die Gardiners dann dafür bezahlen mußten. Aber wenn sie das nun taten? Würde ein Mensch zukünftiger Generationen zufällig darauf stoßen und versuchen, sich davon ausgehend ein Bild vom Innenleben und der Welt eines vergessenen Kindes aus dem einundzwanzigsten Jahrhundert zu machen? Es war ein trauriger Gedanke, ein Leben in all seiner Komplexität reduziert auf ein paar Spielzeuge und Souvenirs.
Na ja, mehr als ein paar…
Ein Loch im Boden ging auf, und etwas wie der Kopf eines zottigen schwarzen Staubwedels erschien, begleitet von einer Cartoonstaubwolke.
»Nett, daß du hergekommen bist«, sagte Beezle.
»Gern geschehen. Ist das hier …?« Er wollte fragen, ob der Ort dem Agenten besonders lieb war, aber kam schon wieder durcheinander. Beezle war ja nicht einmal eine richtige artifizielle Person. Er war im Prinzip ein Kinderspielzeug. »Bist du oft hier?«
Beezle verdrehte einmal kurz seine Glupschaugen. Seine Antwort kam seltsam zögernd. »Ich weiß, wo alles ist. Deswegen isses hier ganz gut. Um was zu machen.«
»Klar.« Ramsey schaute sich nach einer Sitzmöglichkeit um. Das einzige, was offensichtlich der menschlichen Bequemlichkeit diente, war eine in der Ecke aufgespannte Hängematte.
»Willste ’nen Stuhl?« Beezle langte in das Loch im Boden und zog mit ein paar kuriosen Geräuscheffekten einen Stuhl heraus, der drei- bis viermal so groß war wie er. »Bittschön. Ich erzähl dir, was ich rausgekriegt hab.«
Während Ramsey sich setzte, ließ Beezle mitten im Raum einen kleinen schwarzen Würfel erscheinen, schnippte dagegen, und schon erblickte man im Innern ein nebeliges, dreidimensionales Gebilde. Gleich darauf verzog sich der Nebel, und eine hohe schwarze Form war zu erkennen.
»Das ist das Gebäude der J Corporation .«
»Jo.« Beezle tippte den durchsichtigen Würfel an, und das Gebäude klappte auf wie ein Papierbuch, so daß man hineinsehen konnte. »Das ist aus dem Material von diesem Sellars.«
»Du hast es gefunden!«
»Jo. Was ist das eigentlich für’n Heini, ’n Roboter oder sowas? Er führt sein Zeug in Maschinensprache.«
»Er ist kein Roboter, soviel ich weiß, aber das ist eine lange Geschichte, und ich hab’s eilig. Kannst du mich mit Olga Pirofsky verbinden?«
»Willste sehen, wo sie ist?« Beezle bewegte einen unförmigen Fuß, und ungefähr auf Drittelhöhe des Gebäudes glomm ein winziges rotes Pünktchen auf. »Sellars hat ihr ’n Signal verpaßt – sie hat ’ne Marke oder sowas, stimmt’s? –, und das kannste an den Lesern verfolgen, die sie da auf allen Stockwerken haben. Es ist ziemlich schwach, aber reicht aus, um sie zu orten.«
Ramsey sah, wie das rote Pünktchen sich langsam zur Seite bewegte. Jedenfalls ist sie am Leben, dachte er. Es sei denn, jemand trägt sie. »Kannst du in Sellars’ Material erkennen, was er vorhatte? Irgendwie wollte er den Datenstrom des Gebäudes anzapfen, das ist alles, was ich weiß.«
»So lala«, erwiderte Beezle, doch seine Taxifahrerstimme klang plötzlich abgelenkt. »Deine
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