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Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Titel: Otherland 4: Meer des silbernen Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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Seite, ruhig, wissend. Wie eine große Raubkatze oder ein Wolf. Dreads geballte Energie wirkte nicht ganz zivilisiert, da drängten sich einem Tiervergleiche auf.
    Sie beobachtete gerade, wie seine kakaofarbene Haut den grellen Schein der Deckenbeleuchtung abtönte, als Dreads Augen urplötzlich aufgingen.
    »Hallo, Süße«, sagte er grinsend. »Bißchen nervös heute, was?«
    »Liebe Güte …!« Ihr blieb fast der Atem weg. »Du hättest mich vorher warnen können. Du hast dich fast vierundzwanzig Stunden nicht mehr gemeldet.«
    »Viel zu tun«, sagte er. »Ziemlich was los.« Sein Grinsen wurde breiter. »Aber jetzt werde ich dir ein bißchen was zeigen. Komm zu mir.«
    Es dauerte etwas, bis sie verstand, daß das keine Einladung war, zu ihm ins Komabett zu steigen – ein unangenehmer Gedanke, auch wenn die Gefühle, die der Mann in ihr auslöste, weniger ambivalent gewesen wären. Das leise Summen der Motoren und die ständige langsame Bewegung der Liegefläche ließen sie an ein Meerestier denken, vielleicht eine Auster ohne Schale. »Du meinst… im Netzwerk?«
    »Klar, im Netzwerk. Du bist ein bißchen schwer von Kapee heute, Anwin.«
    »Bloß ein paar tausend Dinge zu tun, sonst nichts, und nur zwei Stunden geschlafen.« Sie bemühte sich um einen unbekümmerten Ton, aber dieses locker flockige Teenagergefrotzel ging ihr langsam auf die Nerven. »Was soll ich tun …?«
    »Du gehst rein wie ich und gleich auf volle Immersion, du wirst sie brauchen. Wenn du an den ersten Check kommst, ist dein Paßwort ›Nuba‹. N-U-B-A. Mehr nicht.«
    »Was bedeutet das?«
    Er schmunzelte wieder. »Das ist eins von unsern Aboworten, Süße. Kommt aus dem Norden, von Melville Island.«
    »Und, ist es ein Schimpfwort oder sowas?«
    »Nein, nein.« Er schloß die Augen, als wäre er schon am Wegträumen. »Einfach der Ausdruck für eine unverheiratete Frau. Das bist du doch, oder?« Er kicherte still belustigt vor sich hin. »Wir sehen uns, wenn du kommst.« Er erschlaffte sichtlich und sank in das System zurück wie ein ins Wasser eintauchender Schwimmer.
    Sie merkte erst nach einer ganzen Weile, daß sie von dem Schreck seines plötzlichen Erwachens immer noch ein wenig zitterte. Als ob er mich beobachtet, dachte sie. Als ob er hinter mir steht, mich beobachtet und auf einen günstigen Moment wartet, »buh!« zu machen. Der Mistkerl.
    Sie goß sich ein Glas Wein ein und trank es in zwei Zügen aus, bevor sie sich mit eingestecktem Faserkabel auf die Couch legte.
     
    Dulcy hatte das Codewort kaum ausgesprochen, als das Nichts der ersten Systemebene schon abrupt Farbe und Tiefe gewann. Das Licht war im ersten Moment so blendend hell, daß sie sich fragte, ob sie direkt in die Sonne guckte. Dann schwang das mächtige Bronzetor vor ihr auf, und sie trat ein in das dunkle Innere.
    Die Dunkelheit war nicht vollkommen: Ganz am hinteren Ende des Ganges waberte ein schwacher Schein, und sie ging darauf zu. Ein dumpfes Murmeln tönte ihr entgegen, ruhig und tief wie ein Ozean, der an einem Kieselstrand ausläuft. Als das Licht heller wurde und sie den großen Saal dahinter wahrnahm, einen düsteren Raum voll dichtgedrängter runder Gestalten, ähnlich einem Feld in die Erde eingesunkener Megalithen, konnte sie sich des Gefühls nicht erwehren, in einen Traum hineingeraten zu sein. Ein Blick auf ihre nackten Beine und Füße, mit kräftigen Muskeln und dicken Ballen vom jahrelangen Tanzunterricht, sprach dagegen. Wer sah schon jemals im Traum seine eigenen Füße? Auch die Hände waren deutlich ihre eigenen, die Sommersprossen an den langen Fingern waren selbst in dem trüben Licht nicht zu übersehen.
    Es ist ein Sim von … mir. begriff sie, während sie den großen Saal betrat.
    Das Stimmengemurmel um sie herum schwoll an. Auf dem Fußboden des kolossalen Raumes knieten tausend Menschen, vielleicht mehr, deren rhythmische, geflüsterte Psalmodie zur hohen Decke aufstieg. Öllampen brannten in Nischen an den Wänden und erzeugten mit ihrem Geflacker einen Effekt wie aus den Anfangstagen der Filmtechnik. Zwischen den vorgebeugten Gestalten zog sich eine breite Lücke über den bleichen Marmor; keiner der Kauernden blickte auf, als Dulcy an ihnen vorbeiging.
    Am hinteren Ende des Saales thronte eine stille, regungslose Figur auf einem Hochsitz wie eine Statue in einem heidnischen Tempel, ein langes, silbernes Szepter fest in der Hand. Die Erscheinung war übermannsgroß und hatte zwar einen menschlichen Körper, aber eine Haut, die

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