Otherland 4: Meer des silbernen Lichts
einem Feld. »Menschenskind, Mädel, die sind bloß Code.«
»Mir egal«, versetzte sie. »Das heißt noch lange nicht, daß ich sowas sehen will.«
Die Schakalgestalt verschwand, und auf der obersten Stufe des Podestes stand jetzt Dread in seiner normalen Größe und weit geschnittener schwarzer Kleidung. »Ich wollte nicht, daß du ausflippst, Süße.« Es klang eher unwirsch als reuig.
»Irgendwie …« Sie schüttelte den Kopf. »Was wird hier eigentlich gespielt? Du hast gesagt, der … Alte Mann wäre hier zuhause. Wo ist er? Was hast du die ganze Zeit hier im System getrieben?«
»Och, dies und das.« Sein menschliches Grinsen war nur geringfügig weniger raubtierhaft. »Später erklär ich dir mehr, aber zuerst will ich dich ein bißchen rumführen. Nur zum Vergnügen.«
»Ich will keine brennenden Priester mehr sehen, vielen Dank.«
»Es gibt jede Menge interessantere Sachen zu sehen.« Er streckte die Hand in die Luft, und das silberne Szepter schrumpfte zu einem kleinen silbernen Zylinder zusammen. »Auf, gehen wir.«
»Das ist ja das Feuerzeug!« rief sie. »Was …?«
Aber die hohe Halle von Abydos-Olim und seine tausend unterwürfigen Priester waren bereits verschwunden.
Es war eine richtige Führung. Nach der ersten Station, den Straßen des kaiserlichen Rom, die von den Schreien fliegender Händler und den vom Tiber heranwehenden Schweiß- und Uringerüchen erfüllt waren, versetzte Dread sie auf eine afrikanische Ebene in der glühenden Nachmittagshitze, wo sich fremdartige, elefantengroße Tiere tummelten, die Dulcy noch nie gesehen hatte, und dann in rascher Folge in die Pflaumengärten eines ganz offensichtlich mythischen China, an eine Steilwand mit Blick über einen Wasserfall, der eine Meile oder mehr in die Tiefe stürzte, und zuletzt in die weiße Eiswüste des äußersten Nordens, wo das zuckende Polarlicht am Himmel spielte wie ein in Zeitlupe wiedergegebenes Feuerwerk.
»Mein Gott«, sagte sie und betrachtete dabei, wie ihr Atem als Dunstfahne in der Luft hing, »das ist umwerfend! Klar, ich wußte, daß es viele Simwelten gibt, einige haben wir ja durch den Quan-Li-Sim gesehen, aber …« Sie zitterte, doch kaum vor Kälte. Irgendein in die Simwelt eingebauter Trick oder Dreads Kontrolle darüber sorgte dafür, daß die Temperatur sich nicht kühler anfühlte als ein lauer Frühlingsabend. »Und du kannst einfach überall hingehen …?«
»Überall hingehen, alles machen.« Sein Lächeln war jetzt nur noch angedeutet, der Ausdruck der sprichwörtlichen Katze vor dem leeren Vogelbauer. Er rollte das Feuerzeug zwischen den Fingern. »Dieses Ding brauche ich bald nicht mehr. Und auch du kannst alles machen, was du willst, wenn du hübsch brav bist und mich zufriedenstellst.«
Sie spürte ein warnendes Kribbeln. »Und was genau heißt das …?«
»Daß du deine Arbeit machst. Nicht auf dumme Gedanken kommst.« Er durchbohrte sie mit einem Blick, bei dem ihr höchst unwohl wurde. Ihr war zumute, als ob ihr Versuch, sich in seinen versteckten Speicher einzuschleichen, ein Stigma auf ihrer Stirn hinterlassen hätte. »Du machst dir keine Vorstellung, was ich hier laufen habe.«
Ihre Augen überflogen die endlosen Eisflächen, die schimmernden Nordlichter. »Aber was ist mit deinem Arbeitgeber? Wo ist er geblieben? Wie kommt es, daß du auf alles Zugriff hast…?« Neben ihnen ertönte ein dumpfes Knirschen, und ein Eisstück von der Größe eines Fußballplatzes verschob sich und reckte eine rauhe Bruchkante in die Höhe, wodurch sich die ganze Platte, auf der Dulcy und Dread standen, zur Seite neigte. Sie stöhnte ängstlich auf, schwankte und legte Halt suchend die Hand auf Dreads Arm.
Seine Augen blitzten. »Keine Bange«, sagte er, obwohl er sich an ihrer Unsicherheit zu weiden schien. »Selbst wenn du hier stirbst, passiert dir nichts weiter, als daß du offline befördert wirst. Wir sind die einzigen, die noch frei rein- und rausgehen können.«
»Was ist mit den Besitzern? Wie hießen sie nochmal – die Gralsbrüder?«
Er zuckte mit den Achseln. »Die Verhältnisse haben sich ein wenig geändert.«
»Und du kannst das System steuern? Du kannst ihm Befehle geben?«
Er nickte. Er war stolz wie ein Kind, und Dulcy erkannte, daß er genau wie ein Kind darauf aus war, sich wichtig zu machen. »Gibt’s was, das du gern sehen würdest?«
»Hast du dann diese andern Leute aus dem Netzwerk rausgelassen?«
»Andere Leute…?«
»Die, mit denen wir unterwegs waren –
Weitere Kostenlose Bücher