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Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Titel: Otherland 4: Meer des silbernen Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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schmalsten Partie des Kopfes.
    »Die Prinzessin!« rülpste die nudeldicke Dirn. Ein kleines, durchspeicheltes Wesen versuchte ihr aus dem Mund zu schlüpfen, doch es wurde wieder zurückgesaugt und energisch zermalmt. »Unsere hübsche, leckere Prinzessin!«
    Sie setzten sich in Bewegung und trampelten todbringend durch die Menge, der spannenlange Hansel mit Spinnenfingern und fünf Meter hoch, die längst nicht mehr nur nudeldicke Dirn daneben wie eine überdimensionale Qualle. Die Flüchtlinge, die zwischen der Nebelwand und dem Abgrund in der Falle saßen und keinerlei Ausweichmöglichkeit hatten, stießen sich in ihrem kopflosen Entsetzen gegenseitig nieder. Körper und Körperteile flogen durch die Luft. Die Schreie verbanden sich zu einem einzigen ununterbrochenen Schreckensgeheul.
    Von dem Andrang zum Zurückweichen gezwungen, konnte Paul nur die schlaffe Martine festhalten, damit sie nicht zu Boden sackte. Licht zuckte hinter ihnen aus dem Krater, als ob sich ein feuriger Ausbruch anbahnte, aber Paul war derart eingekeilt, daß er sich nicht umschauen, ja kaum Atem holen konnte.
    »Gebt die Prinzessin heraus!« Der spannenlange Hansel hatte etwas in seinen Knochenfingern, das möglicherweise einmal ein lebendiges Geschöpf gewesen war. Er benutzte es als Keule. »Bringt sie uns her!«
    Sie waren jetzt nur noch wenige Meter von Paul und den anderen entfernt. Das Licht flammte auf und leuchtete die Monster an, wodurch sie noch grotesker erschienen.
    »Halt!« Die Stimme war dünn, doch sie schnitt durch das Chaos wie ein Rasiermesser. »Halt!« gellte sie abermals. »Ihr quält sie, ihr tötet sie!«
    Die ungeheuren Zerrgebilde blieben stehen und wandten sich augenlos, doch sichtlich entzückt dem Krater zu.
    »Unsere Prinzessin.« Aus dem geradezu schmachtenden Ton der nudeldicken Dirn sprach die gierige, gefräßige Vorfreude auf den langersehnten Schmaus. »Prinzessin!«
    Obwohl die Schreie der Verwundeten und Sterbenden immer noch zum Himmel aufstiegen, hatten alle wie einem unwiderstehlichen Zwang gehorchend mit dem Fliehen innegehalten und starrten auf den Abgrund hinaus, dem mörderischen Paar den Rücken gekehrt.
    Sie schwebte über dem aufgewühlten Meer des Lichts, die Arme weit ausgebreitet, als hinge sie leidend an einem unsichtbaren Kreuz, flackernd an- und ausgehend wie ein Bild auf einem alten Zelluloidfilm. Paul hatte sie so lange schon nicht mehr gesehen, daß er die Schönheit ihrer Erscheinung ganz vergessen hatte, das helle Licht, das selbst durch diese kümmerliche Inkarnation hindurchstrahlen konnte.
    »Ava.« Seine Stimme war wie erstickt, nicht mehr als ein Murmeln. »Avialle.«
    Sie sah ihn nicht oder kümmerte sich nicht darum, daß er da war. In der plötzlich eingetretenen Stille wurde sie noch schemenhafter, so daß ihr gequälter und entsetzter Gesichtsausdruck kaum mehr zu erkennen war.
    »Laßt … sie.« Sie begann zu verlaufen wie Staub auf einer Fensterscheibe im Regen. »Ihr … tut uns … weh …«
    »Wir fressen dich, Prinzessin!« brüllte die monströse nudeldicke Dirn. »Komm zu uns!« Die Zwillinge tappten auf den Rand des Kraters zu, und wer ihnen dabei im Weg stand, wurde beiseitegefegt oder in die graue Erde gestampft.
    Klagend stöhnte sie auf, daß es über das Ufer hallte, und schlug sich in hilfloser Resignation die Unterarme vors Gesicht.
    »Avialle! Avialle!«
    Dieser Ruf kam nicht von Paul. Ein Mann quetschte sich durch die Flüchtlingsmassen auf die schwebende Gestalt zu. Es war Felix Jongleur.
    »Avialle!« schrie der kahlköpfige Mann, und diesmal war hinter der Verzweiflung die Wut zu hören. Von Jongleurs hocherregtem Gesicht schien eine solche Helligkeit auszugehen, daß daneben alles andere verblaßte, sogar die flimmernde Engelsgestalt, die Paul so lange schon begleitete. »Komm zu mir! Avialle!«
    Der Nachhall seiner Worte wurde in Pauls Kopf immer lauter statt leiser und übertönte endlich alles andere. Auf einmal schoß ihr pausenlos wiederholter Name durch sein Gehirn wie eine Kugel und schmetterte sein Bewußtsein in Stücke, so daß die Schwärze darunter aufwallte und ihn vollkommen verschlang.
     
     
    > »Oho!« rief jemand.
    Ava kreischte auf und riß sich aus Pauls Armen los. Er fuhr herum und sah das grinsende, aufgedunsene Gesicht Mudds zwischen den Bäumen hindurchlugen.
    »Böse, böse«, sagte der dicke Mann. »Wen haben wir denn da?« Doch trotz des spöttischen Tons wirkte Mudd ein wenig unsicher, als ob auch er von der Situation

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