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Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Titel: Otherland 4: Meer des silbernen Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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letzter Willenskraft drückte sie !Xabbu fest an sich.
    Das Ende, dachte sie. Jetzt ist es soweit. Und dann: Oh, Stephen …!
     
     
    > Als Olga schließlich das verlassene Haus erreichte, war sie über und über verkratzt und blutete an mehreren Stellen. Sie eilte hinein und verriegelte die Haustür. Das würde die beiden nicht lange aufhalten, aber auch das kümmerte sie nicht besonders. Sie beobachtete, wie die zwei Gestalten, die dicke und die dünne, unten am Rand des Gartens schwankend zwischen den Bäumen hervorkamen und zum Haus hinaufschauten. Die Zeit, die sie in den Tanks gelegen hatten, war offensichtlich lange genug gewesen, um sie bei der Verfolgung zu behindern.
    Ich bin fit geblieben, ging es ihr durch den Kopf. Wer hätte gedacht, daß es dafür sein würde?
    Im Fahrstuhl nach oben hatte sie plötzlich eine geradezu erschreckende innere Freiheit verspürt. Ihr Leben war eine Lüge gewesen, ganz und gar auf Lügen gebaut. All die Jahre, in denen sie andere Kinder unterhalten und dabei den eigenen Verlust betrauert hatte, war ihr Kind am Leben gewesen und hatte gelitten, wie vielleicht kein anderes lebendes Wesen jemals gelitten hatte. Was sollte sie jetzt mit diesem Wissen anfangen? Die Faust gegen die ganze Welt schütteln? Vor Gott ausspucken? Was auch immer, es war jetzt bedeutungslos.
    »Olga …« Sellars’ Stimme in ihrem Ohr war donnernd laut und klang doch zugleich sehr schwach. Sie regulierte die Lautstärke. »Er kommt jetzt zu dir. Hab keine Angst.«
    »Angst?« murmelte sie. »Ganz gewiß nicht.«
    Als ihr Sohn schließlich kam, hörte sie ihn nicht, aber sie fühlte ihn – eine kleine Konstellation von Lichtern, die über unvorstellbare Entfernungen aus unterirdischen Tiefen zu ihr aufstieg. Er kam wie ein Schwarm von Vögeln, von Schattengestalten, mit einem Schwirren und Flattern, das Verwirrung und Furcht ausdrückte.
    »Ich bin hier«, sagte sie mit großer Zärtlichkeit. »Ach, mein Kleiner, ich bin hier.«
    Sie hämmerten jetzt auf die Tür des verlassenen Hauses ein, um den Riegel zu sprengen. Olga zog sich von einem Raum in den nächsten zurück, bis sie schließlich das Mädchenzimmer erreichte. Sie setzte sich auf die verstaubte Tagesdecke unter das Regal mit den alten, großäugigen Puppen.
    »Ich bin hier«, wiederholte sie.
    Die Stimmen setzten ein, wie sie sie in ihren Träumen gehört hatte: ein chaotisches Flüstern, ein klagender, lachender Chor von Kindern. Sie schwollen zu einem Rauschen an wie von einem Fluß, strömten zusammen, verschmolzen, bis sie zuletzt nur noch eine Stimme waren, auch wenn sie nicht menschlich klang – eine einzige, einsame Stimme.
    »Mutter…?«
    Sie fühlte ihn jetzt ganz deutlich, fühlte alles, obwohl ihre Ohren im Hintergrund das Krachen registrierten, mit dem die Haustür aus den Angeln gebrochen wurde. Gleich darauf hörte sie das hämische Geschrei des dicken Mannes in den Fluren, die scharfen Töne seines dünnen Gefährten.
    »Ich bin hier«, flüsterte sie. »Sie haben dich mir weggenommen. Aber ich habe dich nie vergessen.«
    »Mutter.« Es lag eine Traurigkeit darin, wie keine normale Stimme sie hätte ausdrücken können. Er trieb nach oben wie ein blindes Wesen vom Grund des Meeres. »Einsam.«
    »Ich weiß, mein Kleiner. Aber nicht mehr lange.«
    »Juhuu!« Der Ruf des Dicken ertönte jetzt unmittelbar vor der Zimmertür. Das schwache Türschloß würde nur wenige Momente standhalten.
    Da platzte eine Stimme auf dem Nebenkanal dazwischen. »Olga, hier ist Ramsey. Du mußt sofort weg!«
    Sie ärgerte sich über die Störung, doch dann sagte sie sich, daß Catur Ramsey sich in einer anderen Welt befand, in der Welt der Lebenden. Dort sah alles anders aus.
    »Ein paar Minuten haben wir vielleicht noch Zeit, genug, um …«
    »Gedulde dich bitte, Herr Ramsey. Ich muß erst noch Herrn Sellars’ Auftrag ausführen.« Sie hängte ihn ab und stand auf. »Ich bin immer noch hier«, versicherte sie dem ungeheuren, einsamen Wesen. »Ich gehe nicht weg. Aber du mußt dir helfen lassen, mein gutes Kind. Fühlst du, wie jemand dich erreichen will? Gib ihm, was er haben will.« Ein schuldbewußtes Gefühl durchzuckte sie kurz, weil sie diese wenigen kostbaren Augenblicke mütterlicher Liebe dazu ausnutzte, ein Kind zu beeinflussen, das zeitlebens immer nur von anderen beeinflußt worden war, aber sie hatte es versprochen. Sie war den Lebenden noch etwas schuldig.
    »Ihm geben …?«
    »Er wird retten, was er kann. Dann ist dir die Last

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