Otherland 4: Meer des silbernen Lichts
Renie. »Warum liegen sie im Koma?«
»Weil Jongleur den Andern unterschätzte. Für seinen eigenen Körper, den man ihm genommen hatte, erhielt der Andere ein komplettes, unglaublich kompliziertes Netzwerk als neuen Körper – doch Jongleur und seine Lakaien verstanden das Bestreben des Andern nicht. Vor allem verstanden sie seine Menschlichkeit nicht … und seine Einsamkeit.
Er entdeckte, daß er seine Macht über elektronische Verbindungen nach außen ausdehnen konnte. Ein Teil dieser Macht beruhte auf Hypnose – ein Effekt, den der Andere wahrscheinlich selbst nicht verstand, sowenig wie wir übrigen viel Energie darauf verwenden, über unser Sehvermögen oder unseren Gleichgewichtssinn nachzudenken. Die Art, wie ihr hier gefangengehalten wurdet, ist ein hervorragendes Beispiel. Er wollte, daß ihr alle im Netzwerk bleibt. Aus irgendeinem Grund war er von euch fasziniert – ich habe ihn dabei beobachtet, wie er euch beobachtet, ja geradezu beschattet hat …«
»Das lag an einer Geschichte«, warf Martine ein. »Von einem Jungen in einem Brunnen.«
»Aha. Nun, ich hoffe, das wirst du mir später erklären.« Zum zweitenmal in kurzer Zeit machte Sellars einen verblüfften Eindruck. »Aber zuerst sollte ich diese Geschichte fertigerzählen.
Der Andere hat sich direkt in eure Gehirne eingeklinkt, ohne daß ihr das überhaupt gemerkt habt. Und auf irgendeiner Ebene übersetzte sich sein Wunsch, euch hierzuhaben, euch festzuhalten, in einen direkten Zwang, der in euerm Unterbewußtsein wirkte. Ihr konntet nicht offline gehen. Ob durch Schmerz oder durch das scheinbare Verschwinden eurer Neurokanülen, ihr glaubtet euch daran gehindert, und so war es dann auch.«
»Aber dies Anderdings ist jetzt echt geext, nicht?« fragte T4b besorgt. »Können wir dann gehen? Nach Hause, irgendwie?«
»Ja. Aber wenn ich mit diesen Ausführungen fertig bin, gibt es noch etwas sehr Wichtiges, um das ich euch bitten möchte – jetzt, wo ihr alle hier versammelt seid.«
»Yeah? Mal sehen«, sagte T4b. »Red weiter, äi.«
»Soll das heißen, daß die Kinder wie mein Bruder auf die gleiche Weise festgehalten wurden?« fragte Renie.
»Nein. Sie waren niemals wirklich hier, nicht so wie wir. Vielmehr waren sie … und sind meines Wissens immer noch … einfach deshalb im Koma, weil der Andere diese Wirkung auf sie hatte, vielleicht sogar unbeabsichtigt.
Ich kann hier nur raten, aber vermutlich hat sich der Andere, als er endlich einen Weg gefunden hatte, die Fesseln des Gralsnetzwerks abzustreifen, über Jongleurs eigenes Informationsnetz weiterbewegt. Dabei ist er dann auf dessen laufende Suche nach entsprechend begabten Kindern gestoßen und hat auch die infiltriert und seinen Einfluß sogar auf Orte wie diesen Mister J’s ausgeweitet. Als der Andere bei seinen Exkursionen die Kinder am andern Ende entdeckte – vielleicht die ersten Kinder, mit denen er seit den Experimenten im Pestalozzi-Institut Jahrzehnte vorher in Kontakt gekommen war –, muß ihn das sehr erregt haben. Er probierte, diese Kinder zu … untersuchen, vielleicht mit ihnen zu kommunizieren. Bestimmt sträubten sie sich dagegen. Ihr seid alle dem Andern begegnet. Er konnte nichts dafür, wie er war, aber das machte ihn nicht weniger schrecklich, nicht weniger furchterregend.«
Wie ein riesiges Ungeheuer in den Tiefen des Ozeans, während ich wehrlos oben schwimme, dachte Renie. Wie ein alles vernichtender Frost. Wie Satan persönlich, ausgestoßen und einsam … »Ja«, sagte sie. »Mein Gott, ja, ich erinnere mich.«
»Nicht wahr?« Sellars nickte. »Konfrontiert mit dem heftigen Widerstand eines zu Tode erschrockenen Kindes, würde ich vermuten, daß dieses psychisch verkrüppelte, aber ungemein mächtige Wesen so etwas wie die telepathische Version des Befehl ›Sei still!‹ brüllte. Und so wurden sie dann … still. Aber da er nicht begriff, was er getan hatte, befreite er sie hinterher nicht wieder, nachdem er sie fertiguntersucht hatte.«
»Sie untersucht?« Florimel klang entrüstet. »Was soll das heißen, sie untersucht? Warum? Was hat er von ihnen gewollt?«
Sellars deutete ein hilfloses Achselzucken an. »Er suchte nach Möglichkeiten, Freunde zu bekommen. Um das zu verstehen, dürfen wir nicht vergessen, daß der Andere selbst im Grunde genommen ein mißbrauchtes, eingesperrtes Kind war.«
Martine machte eine nervöse Bewegung, als wollte sie etwas sagen, aber schwieg dann doch.
»Freunde?« Renie schaute die anderen an, um sich zu
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