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Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Titel: Otherland 4: Meer des silbernen Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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und straff anfühlte, als wollten jeden Moment die Fasern reißen.
    »Renie, gib acht«, rief !Xabbu .
    Sie hob die äußere Hand hoch, um ihm beruhigend zuzuwinken, doch ihre Kraft reichte nur für ein schlaffes Wedeln.
    Schritt. Humpeln. Schritt. Renie mußte sich die Tränen aus den Augen zwinkern, die sie zu blenden drohten. Humpeln. Schritt. Sie würden hier umkommen, einer nach dem anderen, sie wahrscheinlich als erste. Der Mensch, der sich diesen Berg ausgedacht hatte, war ein sadistisches Monster, dem man sämtliche Nervenenden anzünden sollte. Schritt. Humpeln. Schritt.
    Nach kürzester Zeit wurde der Weg noch schmaler und war jetzt nur noch ein Streifen, nicht viel breiter, als Renies Fuß lang war. Das einzig Positive an der ganzen Katastrophe war, daß der Berg hier leicht nach innen geneigt war, so daß sie sich jetzt beim Seitwärtsgehen, das ihren brennenden Wadenmuskel noch stärker belastete, wenigstens leicht vorbeugen konnte, weg vom Rand und dem steilen Abfall ins Nichts.
    Niemand sagte etwas. Es gab nichts zu sagen, und es hatte auch keiner mehr die Kraft dazu.
    Nach ungefähr einer weiteren Viertelstunde qualvollen kriechenden Krebsganges blickte Renie kurz zur Seite und stieß einen bitteren Fluch aus. Wieder traten ihr Tränen in die Augen, und diesmal klammerte sie sich einfach an die Bergflanke und ließ sie fließen, ohne sich um die heftigen Schmerzen in ihrem Bein zu kümmern. Unmittelbar vor ihr wölbte sich der Berg nach außen, so daß der winzige Trittstreifen an einer glatten Felswand klebte, die leicht zum Abgrund hin geneigt war. Sie wollte sich zwingen, noch ein Stück nach vorn zu rutschen, wo sie besser sehen konnte, aber ihre Beine zitterten so sehr, daß sie nichts anderes tun konnte, als sich festzuhalten.
    »Renie?« sagte !Xabbu mit einer Stimme, in der die Sorge sogar noch die Erschöpfung überwog. »Renie?«
    »Es hat keinen Zweck«, sagte sie weinend. »Er steht raus. Er steht hier raus, der Berg steht hier raus. Wir sitzen fest.«
    »Geht der Weg weiter?« fragte er. »Sprich mit uns, Renie.«
    »Vielleicht können wir wieder zurück …?« meinte Sam, doch ihr Ton war hoffnungslos.
    Renie konnte nur den Kopf schütteln. Sie bekam jetzt auch einen Krampf in den Fingern, mit denen sie sich an einem Vorsprung am Berg festkrallte. »Sinnlos …«, flüsterte sie traurig.
    »Bewege dich nicht!« sagte !Xabbu . »Ich komme nach vorn.«
    Renie war überzeugt gewesen, daß es endgültig nicht mehr schlimmer kommen konnte, doch jetzt packte sie ein noch stärkeres Grauen. »Um Gottes willen, was …?«
    »Bewege dich nicht!« wiederholte !Xabbu . »Bitte, bewegt euch alle nicht. Ich werde versuchen, zwischen eure Füße zu treten.«
    Renie konnte sich mittlerweile gerade noch festhalten und starrte hilflos auf die kahle schwarze Steinfläche vor sich. Lieber Himmel dachte sie, er ist ganz hinten. Er war vor mir der letzte, der geführt hat. »Tu’s nicht, !Xabbu !« rief sie, aber rechts von ihr, wo der Rest der Schar genau wie sie an der nackten Wand klebte, war bereits Ächzen und Schurren zu vernehmen. Renie schloß die Augen. Sie hörte ihn näher kommen, aber mochte sich um keinen Preis genau vorstellen, wie er sich außen um Jongleur und Sam herumwand, wie er sich an ihnen vorbei zur anderen Seite streckte und nur dank seiner fast übermenschlichen Balance nicht abkippte.
    »Aufgepaßt, Renie, meine liebe, tapfere Renie«, sagte er jetzt. »Ich bin direkt neben dir. Ich werde nun meinen Fuß zwischen deine Füße setzen. Nicht bewegen. Festhalten.«
    Erschrocken riß sie die Augen auf und sah nach unten, sah !Xabbus braunes Bein zwischen ihren erscheinen, nur mit den Zehen am Rand aufsetzen. Unter ihnen – das Nichts, das silberne Nichts. Seine gekrümmten Finger stießen behutsam mit den Kuppen an die Wand, breiteten sich neben ihrer krallenden Hand aus wie Spinnenbeine, und sein zweiter Fuß trat neben den ersten, so daß er zwischen ihren Fersen auf dem winzigen Felsabsatz stand. Als seine andere Hand hinüberfaßte und sich ausbreitete, so daß er ganz leicht mit der Brust über ihren Rücken strich und dabei eine unglaublich heikle Balance hielt, hatte sie einen Moment lang die Vorstellung, daß, wenn sie sich jetzt zurücklehnte, sie beide einfach fallen und wie fliegende Engel in den hellen Nebel eintauchen konnten, daß dann alle Qualen vorbei waren.
    »Halte den Atem an, mein geliebtes Stachelschwein«, hauchte er ihr warm ins Ohr. »Nur ein Augenblickchen.

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